Himmelreich
- 948 Kilometer pro Stunde, laut Monitor - über den Schleier huscht. Frühling über Neufundland.
Nichts auf dieser Welt, was die Existenz des Menschen voraussetzen würde.
Keine Ahnung übrigens, was Josephine meinte, damals, wenn sie von der »Liebe«, genauer, von der »Liebe des Lebens« sprach. Für mich ist Liebe ein Zustand der Verzückung. Ein Rausch. Nichts weiter. Ich habe mich in meinem Leben schon oft in Projekte verliebt, in Pläne, in Strategien, aber doch nicht in handfeste Dinge, oder gar in Frauen! Platon hatte recht: Neben Ideen gibt es sehr wenig, in das man sich verlieben könnte. Das liegt nicht am Willen, sondern an der Konstitution der Realität. Ich habe Josephine oft zu erklären versucht, wie das ist mit dem Gefühl der Liebe: Die Neurotransmitter, die Hormone, der Hypothalamus, wo die Hormone ausgeschüttet werden, die neuronalen Verbindungen, die Enzyme zwischen den Neuronen, Stimulus-Response. Das alles versteht die Wissenschaft mittlerweile. Biomechanik respektive Neurobiologie. Aber wenn Josephine wieder von der Liebe des Lebens sprach - sie war tatsächlich der Überzeugung, jeder Mensch hätte einmal, höchstens zweimal, das unheimliche Glück, auf die Liebe des Lebens zu treffen -, dann wurden ihre Augen ganz dunkel und rund und geheimnisvoll. Ich mußte mich dann zwingen, sie nicht gleich zu küssen. Ich blieb ruhig und hörte zu, wie man einem Kind zuhört, das von Sankt Nikolaus erzählt. Josephine hätte der Liebe wegen auch auf Bäumen leben und sich von Blättern und Insekten ernähren können. Mein Glück oder Pech, daß ich für sie genau in dieses Schema paßte. Es ist perfekt mit dir, sagte sie, und ich zuckte die Schultern. Natürlich war es perfekt, unsere Gespräche, unsere Neckereien, die Spaziergänge, auf denen wir mit unseren Händen experimentierten, die Umarmungen, unsere angeregte Phantasie - mir kamen in den vergangenen Monaten Geschichten in den Sinn wie sonst nie, wenn ich nicht verliebt bin, also seit Jahrzehnten nicht mehr - natürlich war es perfekt, aber es waren Tage, wie gesagt, Wochen. Darum um so präziser das Wort »Affäre«. Sie haßte dieses Wort. Dann biß sie mir jedesmal ins Ohr. Es ist schon so weit, daß ich den Biß im Ohr spüre, wenn ich nur an dieses Wort denke, sogar hier oben auf 33 000 Fuß.
Ich löse mich aus den Gurten, steige über die ausgestreckten Beine meines schlafenden Sitznachbarn und schlendere zur Toilette. Lavatory, wie sie es hier oben nennen. Ich wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser, trockne es aber nicht, ich lasse das Wasser einfach abtropfen, ich warte, bis es auf meinem heißen Gesicht verdampft. Im Spiegel mein Ohr, das nicht schmerzt, kein Biß, dafür ein dummes Kitzeln im linken kleinen Finger, ein Kribbeln, als wäre er eingeschlafen, ein bizarres Gefühl, ich betrachte meine Hand wie ein fremdes Objekt: Der Finger ist noch da, weiß wie Kalk, aber vorhanden, ich reibe ihn, bis das Blut wieder zirkuliert.
»Noch etwas Wein?« fragt die Stewardess als ich wieder in meinem ausgefahrenen Sitz liege. Das junge Geschöpf in ihrem Schürzchen, das sie so mütterlich macht, so ideal, so beschützend, man möchte ihr geradezu Kinder machen, um dieses Vakuum zu füllen. Ich nicke. Sie füllt auf, schüttet Cabernet in den südafrikanischen Merlot. Ich sage mir: Spätestens im Magen mischt sich alles - die Salzstengel, der Salat, das Chicken, der Spinat, das Schaumstoffbrot, das Mineralwasser, das Mövenpick-Eis, der kalifornische Cabernet und der südafrikanische Merlot, die Magensäure, die Geschichte mit Josephine, das Verdaute von heute morgen.
Schätzungsweise zweihundert Meilen vor Guadeloupe (das sagt mir mein Gefühl) - Windstille. Nichts geht mehr. Ich lasse die Schoten los, um zu sehen, wohin das Hauptsegel springen möchte, doch es bleibt an Ort und Stelle. Der Spinnaker hängt schlaff. Der Windmesser auf dem Mast voller Unlust. Ab und zu bringen die überkreuzten Löffelchen eine halbe Umdrehung zustande, dann ruhen sie wieder. Die Windfahne schwappt im Takt der Wellen hin und her. Wir ziehen den Spinnaker ein - es macht keinen Sinn, er hängt bloß ins Wasser. Ohne Fahrt keine Richtung. NOVACASA liegt mal so, mal anders im Atlantik. Glucksen. Das Wasser bucklig, aber wie geschliffenes Glas. Man kann den Sonnenstrahlen nachschauen, wie sie ins Wasser tauchen, immer tiefer - diese grün schimmernden, unruhigen Linien. Sie erinnern mich an Polarlichter, die Anna und ich auf unserer Hochzeitsreise gesehen
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