Himmelreich
haben. Das war vor vierzehn Jahren, auf einem Kreuzfahrtschiff nach Alaska, es war nach Mitternacht, sie hatte zuviel getrunken, und ich wollte sie ausnüchtern, ich zerrte sie am Arm auf das Deck hinaus, der Wind pfiff, als ich die Tür aufstieß und sie sich schloß, plötzlich diese eisige Luft um unsere Gesichter, und dann auf einmal diese Lichter am Himmel wie schimmernde Vorhänge, ein Gewirr von grünlichen und bläulichen Streifen, Haarfasern, glitzernd, und alle wie durch einen Wind in etwa dieselbe Richtung gekämmt, sie kamen und gingen wie geheimnisvolle Meerestiere. Wir hielten es nicht lange auf Deck aus, es war unter null Grad. - »Spielen wir Wasserball«, ruft Josephine und jongliert einen kleinen orangefarbenen Ball von Hand zu Hand. Wo sie wohl den wieder ausgegraben hat? Auch nach Wochen scheint NOVACASA immer neue Abteile, Kojen und Fächer bereitzuhalten. Wir tun, was man niemals tun sollte: Wir springen beide ins Wasser und lassen das Schiff herrenlos zurück. Wir schwimmen ums Boot herum, planschen, werfen uns gegenseitig den Ball zu. Ein kleiner Windstoß, und NOVACASA würde fortgetrieben, wir wissen es beide, zehnmal schneller, als wir schwimmen können. Ein lustiges Ballspiel, das man mit dem Tod bezahlen müßte. Es ist erschreckend, wie vergnügt man sein kann angesichts eines solchen Risikos. Der Atlantik ist an dieser Stelle siebentausend Meter tief (ich habe gestern auf der Karte nachgesehen). Wir haben kein Gefühl für diesen Abgrund. Sie zielt besser, dafür hat sie nicht die Kraft in den Armen. Ich muß oft zum Ball hinschwimmen, um ihn zu fassen. Wenn ich werfe, schnelle ich aus dem Wasser und schmettere den Ball weit weg, in irgendeine Richtung. Sie muß mehr schwimmen als ich. Manchmal muß sie mir den Ball in zwei Schüben bringen. Sie wirft, schwimmt ihm nach, dann wirft sie ihn nochmals. Erstmals seit Wochen: Gefühl von Raum. Wir entfernen uns vom Boot, dann kommen wir ihm wieder näher, es ist hirnverbrannt, dieses Ballspiel mitten auf dem Atlantik. Einmal schlage ich den Ball so weit weg, daß er für einen Moment lang in einem Wellental verschwindet. Josephine schwimmt los, sie schwimmt gern, das sehe ich. Sie versucht zu kraulen. Es spritzt um ihren ganzen Körper herum. Ich frage mich, was aus unserer Geschichte geworden wäre, wenn ich damals die Maschine nach New York bestiegen hätte. Ich wäre jetzt Bankdirektor in den USA. So what! Ich wäre mit Anna verheiratet (das bin ich juristisch gesehen noch immer). Ich hätte Josephine aus meinem Leben verdrängt, oder, was noch schlimmer ist, wir wären Freunde geworden: eine Glückwunschkarte zu Weihnachten, ab und zu eine E-Mail, Berichte aus dem Leben, nicht gelogen, nicht ohne Details, aber belanglos. Ich hätte nie erfahren, was das ist: diese alles außer Kraft setzende Hingabe an ein anderes Wesen. Und - ich hätte es nie geschafft, dem Alltag so entschlossen den Rücken zu kehren. Eines Tages, vielleicht, wenn alles vergessen ist, wenn dieser ganze Betrug durch die Zeit abgeschliffen und verschüttet sein wird, werde ich wieder in die Wirtschaftswelt zurückkehren. Aber ich werde es tun mit der Besonnenheit eines Konvertierten. - Jetzt hat sie den Ball gefunden, aber mag ihn nicht mehr werfen, sie schubst ihn beim Schwimmen stückweise nach vorn wie ein Seehund. Josephines Kopf, der orangefarbene Ball, die Sonne, das Wasser (siebentausend Meter tief), ich beobachte, wie meine Füße im Wasser schlingern, wie sie sich drehen und winden, wie sie ganz unruhig sind. Josephine ist müde. Sie wirft den Ball ins Cockpit, dann klettert sie die Metalleiter hoch. Aus der Distanz habe ich sie noch nie nackt gesehen. Ich muß an Evolution denken, an die vielen tausend Schritte, die nötig waren, bis aus einem Meerestier ein solches Lebewesen wurde - dünn, hell, mit langen Armen und langen Beinen und einem Büschel schwarzer Haare auf dem Kopf. Es fällt mir ein, warum ich glücklich bin: weil ich zu derselben Spezies gehöre, und ich muß lachen, daß mir so etwas eingefallen ist. Jetzt reibt sie mit einem Frotteetuch das Haar trocken und kämmt es mit allen Fingern zurück. Es hat etwas Primitives, diese Zeit auf See, etwas Animalisches. Jetzt winkt Josephine, ich solle kommen. Ich winke ab. Ich genieße es, allein zu sein. Ich genieße die Tatsache, daß wir sexuelle Wesen sind. Ich bin selig.
Time to Destination: 1 Hour 00 Minutes.
Jetzt auch per Lautsprecher: Landung in einer Stunde.
JFK meldet: wolkenlos bei 14
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