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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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Mein Pilot sagte nichts. Er weigerte sich aufzustehen. Er war jetzt einfach froh, daß er noch am Leben war.
    Ich stapfte allein den Strand entlang zu dem Haus, das ich schon aus der Luft gesehen hatte. Ich weiß nicht, was ich suchte, es waren wenige Meter, die mir endlos vorkamen, und je näher ich kam, desto offensichtlicher wurde es, daß dies kein Haus mehr war, sondern eine Ruine, ein zerschlagenes Gemäuer ohne Dach, aus dem ein entwurzelter Baumstamm ragte, Geäst.
    Dann, plötzlich, blieb ich stehen.
    Es mußte sich um Stunden gehandelt haben. Die Körper waren nicht mehr warm, aber noch hatten sie keine Insekten angezogen. Es sah aus, als schliefen sie. Rechts Josephine, links ein Mann, der mir auf seltsame Weise bekannt vorkam. Noch fehlte das Wächserne, das Harte, das Endgültige auf ihren Gesichtern. Sie lagen nebeneinander, nicht wie ein Liebespaar, sondern eher wie Kollegen in einem Massenlager, parallel ausgerichtet und etwa einen Fuß weit voneinander getrennt. Josephines Arme - es fiel mir erst jetzt wieder auf, wie lang und dünn ihre Arme waren - lagen neben ihrem Körper. Er hingegen hatte seine Arme hochgeworfen, der eine lag quer über dem Bauch, der andere war abgewinkelt und zeigte vom Körper weg. Er trug einen abgewetzten Anzug, wie er vor etwa drei Jahren in Bankenkreisen Mode war: anthrazit mit feinen Nadelstreifen. Aus der Westentasche hing der Bügel einer Lesebrille (Cardin), er hatte sie so eingesteckt, wie ich sie immer einstecke, ohne Etui. Sein Gesicht war meinem nicht unähnlich: die schweren, klar gezeichneten Augenbrauen, die langen Wimpern, die etwas fliehende Stirn, die schmalen Lippen, überhaupt das fast vollständige Fehlen der oberen Lippe, das spitze Kinn, eine Falte, die etwas unschön über die Stirn lief - daher ein Ausdruck, als denke er noch im Tod. Ich suchte nach Namen, aber es wollte mir nicht einfallen, wer er hätte sein können. Dabei kannte ich ihn ganz bestimmt.
    Josephines Gesicht war nicht anders, als ich sie kannte, nur heller, weißer, irgendwie bestimmter, härter, ohne Melancholie.
    Das Meer war jetzt ganz still.
    Daneben ein Holzkreuz, provisorisch, aus ungehobelten Balken zusammengezimmert ohne Inschrift.
    Eine seltsame Symbolik, fand ich.
    Ich rührte mich kaum. Ich hatte, wie gesagt, das Gefühl, als könnten sie jeden Moment erwachen und aufstehen. Einmal, als ein Palmblatt auf sein Gesicht fiel, zuckte ich zusammen und war einen Augenblick bis in die Knie gelähmt.
    Unmöglich, das, was ich sah, mit meinen Erinnerungen in Einklang zu bringen. Ich redete mir ein, daß die Ähnlichkeit mit Josephine Hofmann rein zufällig war. Zufall: ihr Körper, ihre schlangenhaften Arme, ihr Kleid - es war jenes, das sie am Literaturabend getragen hatte -, ihre Uhr - eine Donna Karan, die mir ebenfalls bekannt vorkam -, ihre leicht und spöttisch geknickten Augenbrauen, ihre Ohren, das Haar. Selbst ihre Brille war Zufall. Und ich setzte alles daran, mir einzureden, daß auch die Ähnlichkeit des Mannes mit mir reiner Zufall war.
    Ich war entschlossen, wegzufliegen, diese Insel so schnell wie möglich zu verlassen. Ich hatte Angst, Spuren zu hinterlassen, die mit dem, was hier geschehen war, in Verbindung gebracht werden könnten. Nein, ich kannte die Toten nicht! Ich hatte sie nicht gesucht. Sie gingen mich nichts an. Ich machte die paar Schritte zurück an den Strand, zog die Schuhe aus und krempelte die Hosen bis zu den Knien hinauf. So stand ich eine Weile im Wasser, die Wellen kamen bis zur Gürtellinie herauf, neben meinen Füßen lag das Gehäuse einer Meeresschnecke, so schlingernd wie meine Beine, unbelebt, aber sehr schön, ich ging noch einige Schritte weiter hinein, bis ich ganz im Wasser schwamm, ich hätte die Kleider ausziehen können, aber es hätte mir nicht zugestanden, mich nackt zwei Toten zu zeigen.
    In niedriger Höhe flog ein Vogel den Strand entlang, er war schwarz, nicht pechschwarz, eher mattschwarz wie Josephines Haar, er zog hin und her, machte an einem Ende kehrt und schoß gleich wieder zurück wie das Schiffchen eines Webstuhls, er störte mich, ich weiß nicht, warum, ich fühlte mich von ihm beobachtet.
    Wunsch, mit einem einzigen Strich alles auszulöschen. Wunsch, nicht zu existieren.
    Ich stapfte noch einmal zurück. Ich riß ihre Bluse auf, auch sein Hemd, so daß die Knöpfe flogen, ich redete sie laut an, ich schrie, ich packte sie an den Schultern, nahm ihren Kopf in meine Hände, hielt ihn fest wie in einem Schraubstock,

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