Himmelsdiebe
dauerte nur einen Moment. Entschlossen betätigte er den Klingelzug an der Pforte, erkundigte sich nach dem Zimmer, und zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er hinauf zu der Station, die der Pförtner ihm genannt hatte.
»Wo ist Nr . 16?«, fragte er einen Krankenwärter.
»Dritte Tür links.«
Harry stolperte den Gang hinunter. Dann stand er vor ihrem Zimmer. Außer Atem klopfte er an. Hoffentlich war sie allein.
»Herein.«
Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Zwei Augen wie Kohlestücke blickten ihn an.
»Harr y …?«
»Laura! Gott sei Dank, da bist du ja!«
Mit einem Lächeln streckte sie die Hand nach ihm aus »Ich habe gewusst, dass du mich finden würdest.«
»Mein Gott, wie habe ich dich vermisst!«
Harry stürzte an ihr Bett. Zum Glück war kein Stierkämpfer im Raum. Doch als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, hob sie die Hand.
»Bitte nicht.«
»Warum nicht?«, fragte er. »Wegen Roberto?«
Laura nickte. Entgeistert sank er auf einen Stuhl. Erst jetzt bemerkte er, wie blass und abgemagert sie war. Ihre Haut sah aus wie eine schlecht grundierte Leinwand.
»Was zum Teufel tust du hier?«, fragte er, um irgendetwas zu sagen.
Sie wandte den Kopf zum Fenster. »Erinnerst du dich an die Sache ?«, erwiderte sie mit leiser, schwacher Stimme.
»Natürlich, ich hab dir doch immer deinen Tee gebraut. Aber ich hätte nie gedacht, dass du deswegen mal ins Krankenhau s …« Noch während er sprach, fiel ihm ein, dass der Tee gar nichts mit der Sache zu tun hatte. Auf einmal bekam er Angst. »Sag endlich, was los ist!«
Laura zögerte. »Nur eine kleine Operation. Wie Frauen sie manchmal habe n …«
»Um Himmels willen!«
»Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst. Ich bin nur noch ziemlich schlapp, das ist alle s – die Nachwirkungen der Narkose. Sie haben mich erst gestern operiert.« Sie drehte ihren Kopf herum und richtete ihren Blick wieder auf ihn. »Bist du noch mal in Sainte-Odile gewesen?«
Zu seiner Verwunderung schaute sie ihn dabei an, als hinge ihr Schicksal von seiner Antwort ab. Warum wollte sie das überhaupt noch wissen? Sie war doch angeblich von ihm kuriert und liebte ihn nicht mehr! Ein ranziger Geruch stieg ihm in die Nase. Wahrscheinlich stammte er von den seltsamen Wanderstiefeln, die unter Lauras Bett hervorschauten.
»Ja«, sagte er schließlich, »ich war da. Aber was ist daran so wichtig? Bist du neugierig, ob im Garten noch Mirakelkraut wächst?«
Er hatte gehofft, sie mit seinem Zynismus zu treffen, doch Laura ging nicht auf seine Bemerkung ein.
»Hast du unser Bild mitgebracht?«, fragte sie.
»Die Himmelsbeute ?« Harry erwiderte ihren Blick. Plötzlich spürte er wieder, wie sehr er sie liebte. »Natürlich habe ich das! Ich bin dafür sogar in unser Haus eingebrochen. Kopf und Kragen habe ich riskiert. Wenn Maître Simon mich erwischt hätt e – nicht auszudenken!« Er machte eine kurze Pause. »Warum hast du unser Haus verkauft, Laura? Es war doch unser Zaube r …«
»Psss t …«, machte sie.
Harry verstummte. Er war so verwirrt, dass er kaum noch wusste, was er empfand. War er traurig oder glücklich? Wütend oder beleidigt? Irgendwie war er alles zugleich.
»Eingebrochen? Du?«, fragte Laura ungläubig. »So viel ist unser Bild dir wert?« Sie lehnte sich zurück in ihr Kissen und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Dann ist alles gut«, flüsterte sie.
Ein Lächeln füllte ihren Blick, und ihr Gesicht bekam wieder die alten Farben.
Als er dieses Lächeln sah, zerstoben alle bösen Gefühle, und er musste sich mit beiden Händen am Stuhl festhalten, um nicht aufzuspringen und sie zu küssen. Eine wunderbare Gewissheit überkam ihn. Nichts, was in der Zwischenzeit passiert war, zählte, weder die Tatsache, dass Laura ihr Haus verkauft hatte, noch ihre Flucht aus Sainte-Odil e – nicht mal ihre Ehe mit Roberto, diesem Kretin, spielte eine Rolle. Das alles war so vollkommen belanglos und nichtig wie ihre dumme, kleine Operation. Allein ihre Liebe zählte, ihre Liebe und ihre Kunst. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Laura das wieder begriff.
Harry beschloss, sich in Geduld zu fassen.
»Du bist auf der anderen Seite gewesen, nicht wahr?«, sagte er so leise, als wären sie in einer Kirche. »Geraldine hat mir alles erzählt.«
»Du hast Geraldine gesehen?«
»Ja, dein Vater hat sie mir auf den Hals gehetzt. Aber sag, wie war da s – in San Sebastian? Es muss phantastisch gewesen sein.«
Das Lächeln verschwand
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