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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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staunender Bewunderung sahen sie zu, wie unter ihren Augen das Gesicht einer Frau entstand. Harry spürte, er war auf dem richtigen Weg. Zum Glück hatte er dieses Gesicht schon so oft gemalt, dass er den Pinsel kein einziges Mal absetzen musste. Er kannte jedes Detail, als wäre es ein Stück von ih m – die schwarzen Augen, die feine, helle Haut, der rote Mun d … Als er fertig war, fingen die Zuschauer an zu applaudieren. Sogar das säuerliche Ehepaar aus dem Zugabteil klatschte vor Begeisterung in die Hände.
    »Was ist hier los?«
    Harry drehte sich um. Die Leute verstummten und traten beiseite. Durch die Gasse näherte sich der Bahnhofsvorsteher, ein Mann mit kleinen Augen und einem winzigen Mund. Während er mit einem Gummiknüppel in seiner Hand spielte, warf er einen so verkniffenen Blick auf das Bild, dass es Harry kalt den Rücken herunterlief. Laura hatte alle erober t – nur nicht diesen Mann.
    »Kommen Sie mit!«, sagte der Vorsteher, ohne eine Miene zu verziehen, und verlieh dem Befehl mit einem Wink seines Gummiknüppels Nachdruck.
    Harry legte das Bild beiseite und folgte ihm hinaus auf den Bahnsteig, wo zwei Züge in entgegengesetzter Richtung zur Abfahrt bereitstanden. Wortlos reichte der Vorsteher ihm seine Papiere.
    Harry konnte sein Glück kaum fassen.
    »Sol l … soll das heiße n – ich bin frei?«, fragte er.
    Der Beamte holte tief Luft. »Sie wissen, dass Sie nicht im Recht sind?«
    Harry nickte, aufs Tiefste enttäuscht. Der Funken Hoffnung war noch schneller zerstoben, als er entstanden war.
    Der Vorsteher legte bedauernd seine Stirn in Falten. »Wenn Sie im Recht wären, könnten Sie in den Zug dort steigen, der nach Madrid fährt«, sagte er und zeigte nach links. »Doch leider zwingen mich meine Vorschriften, Ihnen zu sagen, dass Sie den anderen Zug nehmen müssen, der in fünf Minuten nach Pau zurückfährt. Und bevor Sie auf dumme Gedanken kommen, Monsieur«, fügte er hinzu, »passen Sie ja auf, dass Sie nicht in den falschen Zug steigen!«
    10
    Unruhig spielte Debbie mit dem sichelförmigen Ohrring, den Harry für sie emailliert hatte und der seit ihrer Abreise aus Marseille täglich an ihrem Ohrläppchen hing. Seit dem Frühstück, das sie praktisch schon vor dem Aufstehen eingenommen hatte, saß sie im Foyer des Grand-Hotel von Lissabon und wartete. Wenn alles nach Plan gegangen wäre, hätte Harry schon gestern Abend da sein müssen. Wie verabredet, hatte Debbie am Bahnhof sämtliche Züge abgepasst, die aus Richtung Spanien angekommen ware n – ohne Erfolg. Wenn er heute nicht endlich auftauchte, konnte es dafür nur einen Grund geben: Er hatte es nicht über die Grenze geschaff t …
    Eine junge Frau betrat die Hotelhalle und schaute sich um. Sie sah aus wie eine Französin und war fast so hübsch wie Laura. Plötzlich bereute Debbie, nicht in Marseille auf Harry gewartet zu haben. Wie hatte sie nur so egoistisch sein können? Dabei hatte er sie vor ihrer Abreise noch mit einer wunderbaren Liebesgabe überrascht. Von allen Büchern, die er je gestaltet hatte, hatte er ihr ein Exemplar geschenkt. In einem hatte sogar noch eine alte Widmung gestanden: »Für Laura. Wirklich, schön und nackt.« Konnte es einen größeren Liebesbeweis geben? Als er sie beim Abschied geküsst hatte, waren seine Augen feucht von Tränen gewesen.
    Bevor die Reue sie übermannte, bestellte Debbie ein Glas Champagner. Die Bilder, die sie in Madrid gekauft hatte, waren die Ängste nicht wert, die sie nun ausstehen musste. Ja, auch wenn sie es selber kaum glauben mocht e – sie machte sich Sorgen.
    War es wirklich Liebe, die sie für Harry empfand?
    Debbie kannte sich selbst nicht wieder, schließlich war er nicht der erste Mann in ihrem Leben. Doch jede Minute, die sie hier länger auf Harry wartete, wurde ihr zur Qual. Er hatte keinen richtigen Pass und nicht mal tausend Dollar in der Tasch e – sie mochte sich gar nicht vorstellen, was ihm womöglich widerfahren war.
    Um nicht darüber nachzudenken, trank sie einen Schluck. Die junge Französin hatte inzwischen den Mann gefunden, nach dem sie suchte. Während sie ihm um den Hals fiel, winkelte sie ihr linkes Bein an. Obwohl Debbie die Pose ziemlich albern fand, erregte sie ihren Neid. Das waren genau die kleinen Liebesgesten, die Männer so sehr mochten, zu denen Debbie jedoch nicht mehr fähig war. So etwas konnten nur unbekümmerte, junge Mädchen tun, die nichts von der Liebe und ihren Enttäuschungen wussten. Und Debbie kannte sie beide:

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