Himmelsdiebe
aus Lauras Gesicht wie die Farbe aus einem Bild in der Dämmerung.
»Ich möchte nicht darüber reden.«
»Kommt nicht infrage. Du bist die Einzige von uns allen, die je auf der anderen Seite war. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich darum beneide.«
»Bitte, Harry. Später vielleicht, aber jetzt nicht. Es ist alles noch so frisch.«
»Natürlich, die Operation.«
Harry sah, wie schwer das Sprechen ihr fiel, und obwohl es ihn entsetzliche Beherrschung kostete, hielt er den Mund. Laura war in der anderen, der wahren Wirklichkeit gewese n – was für ein unvorstellbarer Schatz! Zusammen würden sie Bilder malen, wie die Welt sie noch nie gesehen hatte.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie. »Das hatten wir uns ja versproche n – ein Leben am Rande des Wahnsinn s …«
»Bis dass die Wirklichkeit uns scheid e …«
»Aber glaub mir, es war so vollkommen anders, als wir dachten. Es war die Hölle. Noch nie habe ich so etwas Schlimmes erlebt.«
»Umso besser!«, rief er. »Große Kunst entsteht aus großem Leid. Das ist es ja, was uns Menschen von den Tieren unterscheidet, mehr als alles andere! Dass wir das scheußlichste Elend in Schönheit und Kunst verwandeln können!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte ganz vergessen, was für einen Unsinn du manchmal redest.« Dabei zog sie ein Gesicht, das Harry auf fatale Weise an ihre Freundin Geraldine erinnerte.
»Warum sagst du das?«, erwiderte er. »Willst du alles für dich behalten? Um die Bilder allein zu malen?«
Als Laura schwieg, nahm er ihre Hand und setzte sich zu ihr aufs Bett. Er hatte sich lange genug geduldet.
»Sobald du gesund bist«, erklärte er, »hole ich dich hier raus. Dann fahren wir wieder zurück.«
»Was meinst du mit ›zurück‹?« Sie runzelte die Brauen. »Zurück nach Sainte-Odile?«
»Ja! Zurück ins Paradies!«
Mit einem erschöpften Lächeln drückte sie seine Hand. »Ach Harry, wirst du eigentlich nie vernünftig?«
Er zuckte nur die Schultern. »Zum Glück weiß ich gar nicht, was das ist.«
»Nein, ich meine es ernst.« Laura schloss die Augen. »Es hat mich solche Anstrengung gekostet, nüchtern zu werden. Jetz t … jetzt will ich nüchtern bleiben.«
»Bist du verrückt?« Harry war aufrichtig entsetzt. »Du hast die Pflicht, der Welt mitzuteilen, was du erlebt hast. Du bist eine Botschafteri n – eine Botschafterin aus der anderen Welt!«
»Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest.«
»Und ob ich eine Ahnung habe! Mein ganzes Leben habe ich mich mit nichts anderem beschäftigt.« Auf einmal kam ihm ein fürchterlicher Gedanke. »Oder willst du etwa mit dem Malen aufhören?«
Laura atmete tief durch. »Ich weiß nicht, vielleicht. Ich weiß nu r – solche Reisen, wie ich sie gemacht habe, sind nicht gut für die Gesundheit.« Sie ließ seine Hand los und öffnete ihren Nachtkasten. »Ich habe ein Geschenk für dich. Von der anderen Seite.«
»Von der anderen Seite? Wirklich?«
Voller Ungeduld schaute er zu, wie sie in der Schublade kramte. Schließlich holte sie ein zotteliges Etwas hervor, aus rotem Stoff mit grünen Wollhaaren.
»Eine Puppe?«, fragte er verwundert.
Laura nickte. Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Aus ihren Augen sprach eine Trauer, als wäre sie auf dem Grund des Ozeans versunken.
Als Harry diese Augen sah, wusste er, was für ein Geschenk das war. Unfähig zu protestieren, wartete er in stummer Ohnmacht ab, dass sie die alles vernichtenden Worte sprach.
»Die habe ich dir von drüben mitgebracht«, sagte Laura und gab ihm die Puppe in die Hand. »Nim m – sie gehört dir. Sie ist mein Abschiedsgeschenk.«
12
Die Bordkapelle spielte einen Marsch, ein kakophones Getöse von Snare-Drums und Blechblasinstrumenten, das Laura schmerzhaft in den Ohren dröhnte, während die Fortune , ein hochmoderner Ozeanriese der Cunard -Reederei, sich in quälend langsamer Lautlosigkeit von der Anlegestelle entfernte, um mit Kurs auf New York in See zu stechen.
Vom Meer frischte eine Brise auf.
»Ich hole dir dein Cape aus der Kabine«, sagte Roberto, als er sah, dass Laura fröstelte.
»Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Und bring bitte die schwarzen Pumps mit. Du findest sie im Schuhschrank.«
Sie stand an der Reling und schaute auf die dicht gedrängten Menschen am Kai, die von ihren Liebsten an Bord des Dampfers winkend Abschied nahmen. Harry war nicht dabe i – Gott sei Dank. Laura wusste nicht, was sie getan hätte, wenn dort unten irgendwo in der Menge
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