Himmelsdiebe
klingelte Bobby mit seinem Glas.
» Ladies and gentlemen ! Darf ich für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«
12
Mit ernster, feierlicher Miene trat René Pompon an ein Stehpult, um die Eröffnungsrede zu halten. Umständlich ordnete er sein Manuskript, hüstelte gegen den Handrücken und zupfte so lange an der Chrysantheme in seinem Kopfloch, bis alle Gespräche verstummt waren.
»Wie könnt ihr anfangen, bevor Laura da ist?«, zischte Harry seinem Sohn ins Ohr.
»Anordnung von Debbie«, erwiderte Bobby.
»Aber wir müssen doc h …«
»Psss t …«
Während die Radioreporter ihre Mikrofone richteten, füllte knisternde Spannung den Raum. Hier und heute würde die Kunst neu definiert, alte Götter vom Sockel gestoßen und neue Götter erhoben!
»Mesdames et Monsieur s …«
Kaum hatte Pompon die ersten Worte gesprochen, machte sich Verwirrung breit. Wollte dieser Froschschenkelfresser seine Rede tatsächlich auf Französisch halten? Doch nach der Begrüßung atmete das Publikum auf.
»Wir sind hier und heute zusammengekommen«, erklärte Pompon in tadellosem Englisch, »um die einzige Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen, die in unseren Augen zählt: die Kunst. Zugleich wollen wir den Versuch unternehmen, die Frage ihrer Bedeutung in unserem Jahrhundert zu klären. In welchen Werken welcher Künstler erkennen wir den Geist der Zeiten wieder, deren Schöpfer und gleichzeitig Kinder wir sind?«
Während Pompon seinem Publikum die Idee der Century Gallery of Modern Art erläuterte, spürte Harry, wie Debbie ihn mit ihren Blicken suchte. Unwillkürlich zog er den Kopf ein. Die fanatische Art und Weise, mit dem sie jedermann anstrahlte, als wäre sie ihr eigener Cadillac, machte ihn nervös. Inzwischen war er fast sicher, dass sie etwas ahnte. Um sie nicht zu reizen, lächelte er ihr zu, so gut er konnte, und drehte sich dann zur anderen Seite, wo die Himmelsbeute hing.
Kaum hatte er den Kopf abgewandt, umfing ihn die Gegenwart des überdimensionalen Flickenteppichs wie ein unsichtbarer Schutzschild, der ihn gegen alle Widrigkeiten dieser Welt feite. Während er den Blick über die einzelnen Teile der Collage schweifen ließ, sah er immer nur Lauras Gesicht. Die schwarzen Augen, die roten Lippen, die porzellanweiße Hau t – wieder und wieder und wiede r … Plötzlich breitete sich ein warmes Gefühl in seinem Körper aus, so kitschig und innig und wunderbar wie bei einem verliebten Friseurgehilfen aus Köln-Nippes.
Konnte es sein, dass er tatsächlich glücklich war?
Schneller, als er sich für seine Gefühle schämen konnte, gestand er sich die Wahrheit ein: eine Wahrheit, die sich in keiner Sprache der Welt ausdrücken ließ. Die Wahrheit einer Wirklichkeit, von der weder Pompon noch Debbie, noch das Publikum etwas ahnte, sondern nur e r – er ganz allein! Wie ein Betrunkener lächelte Harry in sich hinein. Noch vor wenigen Stunden hatten er und Laura sich in diesem Saal geliebt, genau an der Stelle, an der Pompon jetzt seine Rede hielt.
»Dem französischen Historiker Michelet war es vorbehalten, der Hexe nach Jahrhunderten der Verfolgung endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dabei charakterisiert er sie mit einer Eigenschaft, die schon allein darum unser Interesse verdient, weil sie nur einer Frau zu eigen sein kann: Ich meine den Illusionismus lichtvollen Wahns . Auf wen könnte diese Charakteristik in heutiger Zeit besser zutreffen als auf Laura Paddington? Noch immer haben manche arglosen Touristen, die sie vor Jahren im Pairser Café Flore erlebten, sich nicht von dem Schock erholt, als Laura sich während einer Unterhaltung im Kreis ihrer Freunde plötzlich die Schuhe auszog, um sich ihre Fußnägel mit Senf zu lackiere n …«
Ein paar Kritiker lachten mit wissender Miene auf. Während das Publikum unsicher in ihr Lachen einfiel, sah Harry seine Windsbraut vor sich. Ja, ein Töpfchen Senf genügte ihr, um die ganze Welt zu verzaubern. Gleich bei ihrem ersten Gespräch, in diesem schrecklichen Londoner Pub, den sie nur ausgesucht hatten, weil das Essen dort vollkommen ungenießbar war, hatte sie mit Senf ein Bild für ihn gemal t – mit einer Serviette als Leinwand. Und später in Paris, bei ihrem Debüt im Café Flore , hatte sie mit Senf die Speisenfolge ihres alchemistischen Menüs auf den Wandspiegel geschrieben.
»Von all den Gästen, die sie zu ihren berühmten Liebesmählern lud, war ich wohl der einzige, der ihre Kochkunst zu würdigen wusste. Obwohl sie viele
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