Himmelsdiebe
obersten Knopf ihres Kleides öffnete, deutete sie mit dem Kinn auf die Bilder an den Wänden.
»Ich möchte diese Nacht allein sein mit dir. Ganz allein. Nur wir beide, Harry, du und ic h …«
10
Ihr Bett war schon bereit. Nackt, die Körper ineinander verschlungen, sanken sie auf die Himmelsbeute herab.
Eingehüllt in die zusammengeflickte Leinwand, die sie durch halb Europa und bis nach Amerika geschleppt hatten, liebten sie sich im Schattenspiel der flackernden Lichter. Alle Gefühle, zu denen Laura fähig war, verschmolzen in diesem einen Augenblick, in dem sie noch einmal den ganzen Orbit ihrer Liebe durchlebten. Wie zwei Schnecken krochen ihre Leiber ineinander, um miteinander zu tanzen und zu explodieren und in die Lüfte zu entschwinden. Ihre Sinne waren bis zur Bewusstlosigkeit geschärft. Es gab keine Ränder mehr, keine Grenze n – ihre Haut war seine Haut, seine Lippen waren ihre Lippen. Ihr Ich löste sich auf, um in dem anderen Körper aufzugehen, während dieser zugleich vollkommen Besitz von ihr nahm.
Ja, Harry und sie waren eins, eine Atmung, eine Bewegung, ein Fühlen, in diesem Augenblick jenseits der Zeit, in dem Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart verschwanden. Der Große Zauberer und seine Windsbrau t – sie waren für immer und ewig verein t …
Irgendwann hörte Laura seine flüsternde Stimme.
»Werd’ ich zum Augenblicke sagen,
Verweile doch! Du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde geh’ n … «
Verwundert suchte sie in der Dunkelheit seinen Blick. Hatte er das wirklich gesagt? Oder hatte sie das nur selber gerade geträumt?
»Ich wusste ja gar nicht, dass du Gedanken lesen kannst«, sagte sie.
»Du hast dich eben nie wirklich für mich interessiert«, erwiderte Harry, »so wenig wie für Goethe.« Er zog sie zu sich und gab ihr einen Kuss. »Meintest du das, was wir eben gemacht haben, mit der winzigen Kleinigkeit, die noch fehlt?«
»Psss t …«
»Also, wenn du mich fragst, eine winzige Kleinigkeit würde ich das nicht gerade nennen.«
Laura löste sich aus seiner Umarmung.
»Wie hast du das Bild genannt?«, wollte sie wissen.
»Die Windsbraut kehrt zur Erde zurück.«
Laura nickte. Obwohl sie alles getan hatte, um ihre letzte Wahrheit vor Harry zu verbergen, fühlte sie sich von ihm in diesem Augenblick in einer Weise verstanden, wie noch nie ein Mensch sie verstanden hatte.
Jetzt war sie sicher, er würde sie auch morgen verstehen.
»Ein schöner Titel«, sagte sie leise. »Besser kann man es nicht ausdrücken.«
»Ein so großes Kompliment für einen so einfachen Titel?«, fragte Harry verwundert. »Das bin ich ja gar nicht von dir gewohnt.« Er stützte sich auf den Ellbogen und richtete sich auf. »Kann es sein, dass du mir etwas verschweigst?«
»Seit wann bist du so misstrauisch?«, erwiderte sie so unbekümmert wie möglich. »Fast wie ein Mexikaner.«
Er nahm ihr Kinn in die Hand und schaute sie an.
»Kommst du morgen zur Vernissage?«
Alles Sezierende verschwand aus seinen hellen Augen, um einer Zärtlichkeit zu weichen, die Laura bestürzte. Sie musste ihre ganze Kraft aufbieten, um diesen Blick zu erwidern. Zu deutlich spürte sie die eigentliche, die wirkliche Frage, die sich hinter seinen bangen Worten verbarg.
»Hab keine Angst, mein Geliebter«, sagte sie. »Was immer geschieh t – ich werde bei dir sein.«
11
Die Century Gallery of Modern Art platzte buchstäblich aus den Nähten. Hunderte von Menschen drängten sich am Tag der Eröffnung in den Ausstellungsräumen, und draußen vor dem Eingang wand sich die Schlange derjenigen, die zusätzlich Einlass begehrten, zwei Blocks die 58th Street West hinunter. Debbies Einfall, sämtliche Einnahmen der Vernissage dem Roten Kreuz zugutekommen zu lassen, hatte ihre Werbewirkung nicht verfehlt.
Die größte Zuschauermenge staute sich in der Eingangshalle, direkt vor der Himmelsbeute , wo Harry und Debbie die Gäste empfingen. Die Passage vor der Collage war das Nadelöhr, durch das alle Neuankömmlinge mussten, um Zutritt zu der Jahrhundertschau zu erlangen. Keiner konnte die Ausstellung betreten, ohne das Werk zu sehen, das Harry und Laura geschaffen hatten. Manche Zuschauer quittierten den Anblick mit lauten Begeisterungsrufen, andere starrten das Bild fassungslos an und weigerten sich weiterzugehen. Harry freute sich über jede Beifallsbekundung wie ein Kind an seinem Geburtstag. Er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, die Collage
Weitere Kostenlose Bücher