Himmelsdiebe
dem Himmel gestohlen hatten.
Kaum war der Kaufvertrag für das Haus unterschrieben und beglaubigt, bezogen Harry und sie ihr neues Heim. Zum Glück war es ihnen vor der Abreise in Paris noch gelungen, in der Galerie des Beaux-Arts eine Ausstellung zu organisieren und ein paar Bilder zu verkaufen. Das Geld, das sie dabei eingenommen hatten, reichte für alles, was sie hier zum Leben brauchten: Essen und Trinken, ein großes französisches Bett, Leinwand und Farben.
August und September flogen dahin wie im Rausch. Jeder Tag war ein neuer Tag der Schöpfung. Zusammen entrümpelten und reinigten sie das Haus. Sie befreiten die Wände von den Spinnweben, verputzten die schadhaften Stellen und strichen sie mit Kalkfarbe an. Sie reparierten die Fußböden, deckten das Dach mit Schindeln, um es gegen den Mistral zu sichern, erneuerten die zerschlagenen Fenster und setzten Schlösser in die Türen ein. Vor allem aber verzauberten sie das Haus mit ihrer Kunst. Unter ihren Händen verwandelte sich das Gemäuer nach und nach in einen Palast der Träume, in einen Ort der Magie, in eine verwinkelte Schatzkammer der Metamorphosen, in der die Funken ihrer Energien nur so sprühten. Während Harry aus den unscheinbarsten Fundsachen die phantastischsten Figuren schuf, Minotauren und Sirenen, Sphinxe und Riesen, mit denen er Hof und Garten schmückte, gestaltete Laura die Innenräume, kachelte die Küche mit bunten Scherben und Flaschenböden und bemalte Stühle und Schränke mit geheimnisvollen Zeichen und Symbolen. Und jeden neuen Raum, jede neue Nische ihres Zauberhauses weihten sie ein, indem sie darin miteinander schliefen.
Im Oktober ernteten sie die Trauben aus ihrem Weinberg. Fast eine Woche brauchten sie, um die sonnenschweren Reben von den Stöcken zu pflücken. Harry beauftragte den Schmied, den alten Leiterwagen im Hof zu reparieren, damit sie die Ernte ins Dorf bringen konnten, in den Schuppen von Madame Lulu, wo die Weinbauern der Umgebung eine Gemeinschaftspresse betrieben. Die Lese reichte für über hundert Flaschen. Schon jetzt freuten sie sich darauf, im neuen Jahr nur noch ihren eigenen Wein zu trinken.
So verstrichen die Tage und Wochen. Ohne Gefühl für die Zeit arbeiteten Harry und Laura an ihrem Zauberhaus und im Weinberg, malten in ihrem Atelier, das sie sich im Dachgeschoss eingerichtet hatten, badeten nackt in einem abgeschiedenen Arm des Flusses oder lagen einfach in der Sonne und tranken am Abend in der Dorfkneipe Wein. Nie dachten sie daran, welcher Tag gerade war. Sie vergaßen sogar, sich an den Wochenenden zu langweilen. Sie rauchten Mirakelkraut und kochten magische Speisen, um sich zu berauschen und keine Minute nüchtern zu sein. Und während die Wirklichkeit ihre scharfen Konturen mehr und mehr verlor, genossen sie einander, als wären sie zwei Körper in einer Seele, und so intensiv und sicher war ihr Gespür füreinander, dass sie, ohne sich umzudrehen, wussten, wann immer der eine hinter dem anderen stand.
5
»Was machst du denn da?«, fragte Harry, als er die Loggia im Dachgeschoss betrat.
»Ich arbeite«, erwiderte Laura.
»Das sehe ich. Aber seit wann haben wir eine Schneiderwerkstatt? Ich dachte, das ist unser Atelier!«
»Das ist es auch.«
»Ach so! Dann malst du wohl neuerdings mit einer Nadel?«
Laura saß am Fenster und vernähte gerade zwei Stücke Leinwand, während sich zu ihren Füßen weitere Leinwandbahnen am Boden wellten wie die Schleppe eines überdimensionalen Kleides. In der Herbstsonne, die golden durch die breite Fensterfront in die Loggia schien, sah sie aus wie eine Braut, die letzte Hand an ihre Aussteuer legt. Es fehlten nur noch die Brautmutter und ein paar Schwestern oder Cousinen als Brautjungfern.
Plötzlich sah Harry, was sie da auf dem Schoß hatte.
»Bist du verrückt geworden?«, rief er. »Das ist ja mein Bild!«
»Was du nicht sags t …«
»Hör sofort auf, darin rumzustechen! Willst du es ruinieren?«
»Im Gegentei l – ich mache es erst ganz.«
»Was zum Teufel soll das? Wenn du ein Kleid brauchst, fahr nach Avignon und kauf dir eins!«
Er griff nach der Leinwand, doch Laura gab ihm einen Klaps auf die Finger.
»Ein Kleid wäre auch keine schlechte Idee«, sagte sie. »Aber was ich mache, ist besser.«
»Und was soll das sein, wenn’s fertig ist?«
Sie vernähte ihren Faden und drückte ihm ein Ende der Leinwand in die Hand.
»Halt bitte mal fest!«
»Wehe, du hast keine gute Ausrede!«, knurrte Harry.
Er hatte das Bild erst vor
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