Himmelsdiebe
Papier tropfen, presste Drahtgeflechte und Holzstücke auf bestrichene Leinwände und verschob Glasplatten auf Bögen mit frischer Farbe. Laura staunte über die rätselhaften Linien und Kreise, die dabei wie von selbst entstanden, nicht weniger als die übrigen Zuschauer, die angeblich Irren und Geisteskranken, die doch so viel besser und klarer sahen als die meisten sogenannten normalen Menschen und die sich nun gegenseitig darin überboten, die Zeichen und Symbole zu entziffern, die Harry mithilfe der alltäglichsten und banalsten Materialien sichtbar werden ließ. Bald hatte auch der Letzte von ihnen das Spiel begriffen, und Harry konnte sie sich selbst überlassen. Ohne Sinn und Verstand, doch mit dem Feuer ihres Wahns und der Unbekümmertheit ihrer Augen und ihrer Seelen fügten sie Dinge zusammen, die scheinbar nichts miteinander zu tun hatten und doch irgendwie zusammengehörten, wenn man sie nur miteinander in Beziehung setzte, und während sie Pappkartons mit mehreren Schichten Farbe bestrichen, um sie mit Spachteln in fließende Marmorierungen zu verwandeln, freuten sie sich wie Kinder über die geheimnisvollen Blasen und Rinnsale, die unter ihren Händen zutage traten.
»Kannst du dir bessere Lehrer vorstellen?«, fragte Harry. »An ihnen wollen wir uns ein Beispiel nehmen. Nicht nach einem Plan, sondern aus dem Unterbewussten müssen wir malen. Ein Bild ist nur gut, wenn es den Maler selbst überrascht, ihm als eine neue Wirklichkeit entgegentritt, von der er zuvor selbst keine Ahnung hatte.«
Laura war fasziniert. Und zugleich hatte sie Angst.
»Ich glaube, jetzt verstehe ich erst wirklich, was du damals meintest, auf den Klippen von Cornwall. Dass die Vorstellung stärker ist als die Wirklichkeit und dass die Verrückten die eigentlich Vernünftigen sind.«
Harry nickte. »Ich weiß nicht, wie es sonst is t – aber in der Kunst geht es nicht anders. Das Unsichtbare ist das Wirkliche, und das wahrhaft Wirkliche ist immer unsichtbar. Wenn du zum Beispiel ein Bild von einem Menschen malst, produzierst du nicht einfach sein Konterfei, vielmehr erschaffst du diesen Menschen aufs Neue, um ihn wahrer und wahrhaftiger zu erkennen als in der Realität. Er wird anfangen, mit dir zu reden und dir sein Innerstes offenbaren. Bleibt die Leinwand hingegen stumm, taugt dein Bild nichts, und du kannst es wegwerfen. Aber sag mal«, unterbrach er sich plötzlich. »Was malst du da eigentlich die ganze Zeit, während deine Professoren sich so für dich ins Zeug legen?«
»Nichts Besonderes«, sagte Laura.
Harry legte die Farbdose beiseite, mit der er gerade noch gekleckselt hatte, und trat zu ihr an die Staffelei.
»Nichts Besonderes?«, wiederholte er, als er ihr Bild sah.
Laura spürte, dass sie rot wurd e – wie eine Kunststudentin im ersten Semester. Erst jetzt, als Harry ihr Bild betrachtete, wurde ihr bewusst, was sie gemalt hatt e; eine Außenansicht der Schlossruine, in der sich ihre Kunstakademie befand. Die Fenster des verfallenen Gebäudes waren sehende Augen, die Türen sprechende Münder.
»Ein Palast der Visionen«, sagte Harry und gab ihr einen Kuss. »Der Genius loci in Öl.« Nachdenklich wiegte er den Kopf, während er das Bild betrachtete. »Das Einzige, was mich daran stört, ist, dass es auch von mir sein könnte. Darum kann ich der Kandidatin leider nur eine Zwei plus geben und keine glatte Eins. Oder was sagen Sie, Herr Professor?«, wandte er sich wieder an seinen mongoloiden Lieblingskollegen.
Der Junge zeigte auf das Bild und stammelte vor Begeisterung nur zwei Worte: »Schwester Anna!«
8
Es war schon spät am Abend, als Harry und Laura nach Sainte-Odile zurückkehrten.
»Schauen wir noch auf ein Glas bei Lulu vorbei?«, fragte er, nachdem sie das Cabrio vor dem Haus abgestellt hatten, wo Maître Simon in seiner Junggesellenwohnung lebte. Den Schlüssel hatte Harry einfach im Schloss stecken lassen, wie der Notar ihm gesagt hatte. Maître Simon meinte, die paar Dorfbewohner, die Auto fahren könnten, hätten selber einen Wagen, und Fremde würden sich in der Nacht nicht hierher verirren.
»Was sonst?«, erwiderte Laura und betrat das Hôtel des Touristes .
In dem verrauchten Bistro hockten nur ein paar Bauern an den Tischen und spielten Karten. Die meisten kannten Harry und Laura schon, doch noch immer schielten sie misstrauisch zu ihnen herüber, wenn sie hier einkehrten. Lulu brachte gerade ein Tablett mit gebrauchten Gläsern zum Tresen, um sie in einen Bottich mit trübem
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