Himmelsdiebe
wenigen Tagen fertiggestell t – Dada in einem Garten geheimnisvoller Farne und Lüste. Erst jetzt erkannte er, dass Laura sein Bild mit einem ihrer eigenen Bilder vernäht hatte. Es zeigte die Windsbraut an einem festlich gedeckten Tisch mit einem übergroßen, perlmuttschimmernden Ei darauf. Und daran schlossen sich Dutzende weiterer Bilder an: Bilder von ihr, von ihm, von ihnen beide n – eine Collage all der Gemälde, die sie in den letzten Wochen und Monaten in ihrem Atelier gemalt hatten.
»Das ist unsere Himmelsbeute«, sagte Laura, während sie ihr Ende der Leinwand an einem Nagel aufhängte.
»Unsere was?«, fragte Harry.
»Himmelsbeute«, wiederholte Laura und nahm ihm die Leinwand aus der Hand, um sein Ende ebenfalls an einem Nagel zu befestigen.
Harry trat zurück, um besser zu sehen. Der Anblick verschlug ihm die Sprache. Vor sich sah er ein wucherndes Riesengemälde, ein Dickicht aus zahllosen ineinander verschachtelten und miteinander verästelten Bildern, das beinahe die ganze Wand bedeckte: eine wahnwitzige Landschaft seiner und ihrer Träume. Umgeben von dunklen Wäldern, tauchten darin immer wieder Dada und die Windsbraut auf, zusammen mit Kobolden und Elfen und Vampiren, mit Liebesvögeln und Paradiesvögeln, Nachtvögeln und Teufelsvögeln, die mit mächtigen Schwingen scheue Wildpferde und Schaukelpferde beschützten oder sich schwarzen bedrohlichen Rössern entgegenwarfen.
»Mein Gott«, flüsterte er, als er endlich begriff. »Alle Augenblicke, die wir dem Himmel gestohlen haben. Wie bist du darauf gekommen?«
»Ich wollte etwas haben, das nur uns beiden gehört. Wann immer einer von uns daran arbeitet, werden wir zusammen sein. Egal, wo der andere gerade ist. Solange wir leben.«
Harry gab ihr einen Kuss.
»Und was ist mit den Augenblicken der Hölle?«, fragte er leise.
»Ist das nicht dasselbe, wenn man sich liebt?«, erwiderte Laura mit einem Lächeln.
Harry schüttelte den Kopf. »Die Weisheit einer Königin.« Er nahm ihre Hände und führte sie an seine Lippen. »Ich glaube, dafür bin ich dir etwas schuldig.«
6
Es dauerte eine Woche, bis Harry sein Versprechen einlöste.
»Was um Himmels willen ist denn das?«, rief Laura.
Am Fuße des Weinbergs stand ein feuerrotes Cabriolet. Der Rücksitz war vollgeladen mit einer Staffelei und allen möglichen Malutensilien. Im Zündschloss steckte der Schlüssel.
»Bevor du auf dumme Gedanken kommst«, sagte Harry, während er ihr beim Einsteigen half, »der Wagen gehört uns nur heute. Maître Simon hat ihn uns geliehen.«
»Dann gibt es für den Rest des Tages kein Morgen mehr. Und wohin geht die Reise?«
»Nur ein bisschen Geduld.«
Harry ließ den Motor an. Es war ein wunderbarer Oktobertag. Der Herbst prahlte mit seinen herrlichsten Farben, und ein warmer Fahrtwind umschmeichelte Lauras Gesicht, blähte ihr Kleid und wirbelte ihr Haar durcheinander, während sie durch das Lignetal in Richtung Norden fuhren, wo sie nach einer Stunde einen kleinen Ort namens Largentière erreichten. Harry bog von der Landstraße ab und parkte den Wagen am Rand einer von Zypressen bestandenen Allee.
»So, da wären wir.«
Er stieg aus und holte die Malsachen aus dem Wagen. Laura schaute sich um. Furchtbar viel zu sehen gab es nicht. Ein verschlafenes Dorf, vielleicht dreimal so groß wie Sainte-Odile, nur dass es an einer Bahnstrecke lag, drum herum ein paar Weinberge sowie ein halb verfallenes Schloss, das sich am Ende der Allee auf einem kleinen Hügel erhob. Laura war ziemlich enttäuscht.
»Willst du etwa die Ruine malen? Sind wir deshalb hierhergekommen?«
»Ich denke, es ist an der Zeit, ernsthaft mit deiner Ausbildung zu beginnen. In dem Schloss ist eine Kunstakademie untergebracht. Die beste von ganz Frankreich.«
»Hier?«, fragte sie und stieg aus dem Auto. »In diesem Kaff? Das glaubst du doch selbst nicht!«
»Du wirst schon sehen. Aber wie wär’s, wenn du auch mal mit anpacken würdest?«
Laura nahm ihm die Staffelei ab. »Das scheint ja eine sehr besondere Akademie zu sein. Wo man seine eigenen Malsachen mitbringen muss.«
»Besondere Schulen haben ihre besonderen Gesetze.«
Ein verwittertes Holztor war in die Mauer eingelassen, die das Schloss umgab. Harry betätigte den Türklopfer. Während sie warteten, steckte er sich eine von seinen Mirakelkrautzigaretten an.
»Möchtest du auch eine?«
»Ist das hier denn erlaubt?«
»Hier haben sie das Rauchen von Mirakelkraut erfunden ! Ohne Zigarette kommst du gar nicht
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