Himmelsdiebe
l … Ein seltsames Gefühl von Geborgenheit überkam sie, wie damals in der Themse-Galerie, als sie zum ersten Mal Harrys Bilder gesehen hatte, oder wie in Cornwall, auf den Klippen über dem Fjord, als würde sie in einen Traum zurücksinken, aus dem sie nur für kurze Zeit erwacht gewesen wa r … Nichts konnte sie hier erreichen. Keine Florence, kein René Pompon und auch nicht ihre Eltern. Hier gab es nur noch den Großen Zauberer und die Windsbraut, den Wald und seine magischen Wesen, die sie begrüßten wie altbekannte, längst vertraute Geister.
»Sieh nur«, sagte Harry. »Ein Gewitter.«
Laura schaute in die Höhe. Tatsächlich, hinter dem Rücken der Felswand, die sich jenseits des Dorfes erhob, türmten sich schwarze, von Blitzen durchzuckte Wolken in den Himmel, während in der Ferne der Donner grollte: ein finsterer, böser Drache, der über den Berg steigen wollte, um in das Tal einzudringen.
»Die Wolken schaffen es nicht«, sagte Laura. »Sie bleiben an der Felskante hängen.«
»Ja, der Kamm muss eine Wetterscheide sein.« Harry nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss. »Was meinst du?«, fragte er. »Wollen wir hier bleiben?«
2
Als Erstes brauchten sie ein Dach über dem Kopf. Bereits am nächsten Morgen machten sie sich auf die Suche. Madame Lulu, die unglaublich ungepflegte, aber offenbar herzensgute Patronin der Dorfkneipe mit dem hochtrabenden Namen Hôtel des Touristes , wo Laura und Harry untergekommen waren, hatte ihnen einen Tipp gegeben: ein altes, abgelegenes Winzerhaus in einem Weinberg, nur eine Viertelstunde zu Fuß vom Dorf entfernt. Die Besitzer lebten laut Auskunft der Wirtin in Avignon, eine Erbengemeinschaft, die kein Interesse an dem kleinen Anwesen hatte und es sicher für wenig Geld verkaufen würde. Madame Lulu musste es wisse n – angeblich gehörte ihr das halbe Dorf.
»Das wird es sein«, sagte Harry, als sie an das Ende des steilen Pfades an einen verwitterten Torbogen gelangten.
»Meinst du, wir können hindurchgehen, ohne erschlagen zu werden?«, fragte Laura.
Der Torbogen führte zu einem halb verfallenen Steinhaus, das schon viele Hundert Jahre alt sein musste. Seit einer Ewigkeit schien kein Mensch mehr hier gewesen zu sein. Im Hof stand ein Leiterwagen mit gebrochener Achse, überall lagen eingerostetes Werkzeug und Schrotteisen unerfindlicher Herkunft im Staub. Dazwischen irrte ein blökendes Schaf umher.
»Ein wunderbarer Ort zum Leben«, erklärte Harry.
»Bist du sicher?«, fragte Laura.
»Ganz sicher. Wenn mich nicht alles täuscht, müsste hier sogar Mirakelkraut wachsen.«
»Mirakelkraut?«
»Hast du in der Schule nicht aufgepasst? Das weiß doch jedes Kind ! – Ah, da ist ja schon welches!« Summend vor Zufriedenheit nahm Harry ihre Hand und führte sie zu den Überresten eines Beetes. »Vor langer, langer Zeit lebte hier ein Mädchen, das war so hässlich, dass es nur verschleiert das Haus verließ. Doch seine Haare waren wunderschön, und sie verströmten einen solchen Wohlgeruch, dass ein Zauberer sich in sie verliebte. In dunkler Nacht wurde das Mädchen seine Frau. Als er aber am nächsten Morgen aufwachte und ihr Gesicht sah, war er so wütend über den Betrug, dass er sie tötete und in der Erde begrub. Nur ihre Locken schauten aus dem Boden hervor. Seitdem wächst in der ganzen Gegend Mirakelkraut.«
»Eine traurige Geschichte«, sagte Laura.
»Warte ab«, erwiderte Harry. »Sie geht ja noch weiter. Einmal im Jahr, im Frühling, wenn die Erde aus ihrem Winterschlaf erwacht, kommt der Zauberer wieder hierher, um nach dem Grab zu schauen. Jedes Mal, wenn er dann die Locken sieht, muss er an die wunderbare Nacht denken, die er und das Mädchen zusammen verbracht haben. Und die Tränen, die er dabei vergießt, bringen das Mirakelkraut zum Wachsen.«
»Dann hat er sie also geliebt?«, fragte Laura.
»Wer weiß? Vielleicht, wenn wir Glück haben, sehen wir ihn ja nächstes Jahr und können ihn selber fragen.« Harry bückte sich und zupfte ein trockenes Pflanzenbüschel aus dem Boden. Während er die Blätter zwischen den Fingern zerrieb, hielt Laura seine Hand unter die Nase. »Hier, riech mal, wie das duftet.«
Sie schloss die Augen und sog das Aroma ein. »Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sage n – Thymian.«
»Dann sei nur froh, dass ich dein Lehrer bin. Eigentlich muss man Mirakelkraut rauchen. Eine Zigarette davon am Tag, und man wird niemals nüchtern. Aber manchmal wirkt es auch schon, wenn man nur den Duft
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