Himmelsfelsen (Krimi-Edition)
Eigentlich hätte er längst zu Hause bei seiner Frau sein können, aber der Anruf aus Ulm ließ auf sich warten.
Häberle hatte die weiteren Ermittlungen zum Selbstmord dem Geislinger Kollegen Markus Schmidt überlassen. Beide hatten sie dann im Aufenthaltsraum zusammen mit weiteren Beamten das Fußballweltmeisterschaftsspiel angesehen, das die Italiener gegen die Südkoreaner nach der Verlängerung mit 1:2 verloren.
Anschließend hatte er sich ein Eis gegönnt. Er war der Meinung, dass ihm dies nach seinem frühmorgendlichen Einsatz auch zustand. Außerdem gab’s an seiner Dienststelle in Göppingen nichts, was brandheiß zu erledigen gewesen wäre. So hatte er sich vorgenommen, am Spätnachmittag noch einmal in der Geislinger Außenstelle vorbeizuschauen, um das Obduktionsergebnis zu erfahren.
Als er gegen 17 Uhr das Polizeirevier betrat, richteten ihm die uniformierten Beamten aus, dass »die Kripo« bereits Feierabend gemacht habe, bislang aber kein Anruf von der Ulmer Gerichtsmedizin eingegangen sei. Häberle verengte die Augenbrauen und sagte, er werde ins Büro des Kollegen Schmidt hoch gehen und sei dort telefonisch erreichbar.
Die Kollegen waren tatsächlich bereits gegangen, vermutlich ins Freibad oder in den Biergarten. Häberle nahm sich vor, nachher auch noch einen Abstecher zu Ferdl zu machen, dem Helfenstein-Wirt, droben in der Burgschenke. Normalerweise war das urige Lokal nur an den Wochenenden geöffnet, doch während der Sommerwochen war der Wirt, den sie alle den ›Ferdl‹ nannten, oftmals auch an den Werktagen da. Häberle wischte sich mit dem linken Handrücken den Schweiß von der Stirn, als er sich auf dem Schreibtischstuhl seines Kollegen Schmidt niederließ. Er blickte gedankenversunken durch das weit offenstehende Fenster zur Feuerwache hinüber. Er freute sich jetzt auf ein kühles Weizenbier. Dann aber riss ihn der elektronische Ton des Telefons aus den Gedanken. Eine Männerstimme, ruhig und bedächtig, teilte ihm das Ergebnis des Obduktionsbefundes mit. »Wir gehen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass der Mann einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.« Es schien, als warte der Gerichtsmediziner auf eine Reaktion. Doch Häberle blieb wie versteinert sitzen und lauschte weiter. »Trotz der starken Sturzverletzungen, vieler Prellungen und Abschürfungen«, so fuhr die Stimme im Telefon fort, »ist eine Stoßverletzung an der linken Bauchseite nicht zuzuordnen. Sie ist kreisrund und kann deshalb nicht vom Aufprall auf die kantigen und zackigen Felsvorsprünge herrühren.«
»Und Sie haben keinerlei Zweifel?«, hakte Häberle nach.
»Tut mir leid, Herr Häberle, aber auch meine Kollegen stimmen mir uneingeschränkt zu. Der Mann muss einen kräftigen Stoß gegen die linke Bauchseite, etwa in Höhe des Bauchnabels, abgekriegt haben.«
»Und diese Verletzung kann nicht schon älteren Datums sein? Ich meine, es könnte doch sein, dass er diese Verletzung schon Stunden vor dem Absturz erhalten hat.«
»Nein, das ist absolut ausgeschlossen. Wir gehen davon aus, dass dieser Stoß unmittelbar vor seinem Tod erfolgt ist. Dafür gibt es eindeutige Hinweise.«
Häberle holte tief Luft. »Einen Stoß, sagen Sie«, wiederholte er, als ob er es nicht für möglich hielte, »mit anderen Worten, Sie wollen damit sagen, dass dieser Mensch vom Felsen gestoßen wurde.«
»Das sind die Schlüsse, die Sie ziehen«, sagte die sachliche und kühle Stimme, wie sie nur einem Gerichtsmediziner gehören konnte, den nichts mehr aus der Ruhe zu bringen vermochte.
»Das würde aber bedeuten«, sagte Häberle und überlegte, „ja, das würde bedeuten, dass der Mann den Täter gesehen haben müsste, wenn der Stoß von vorne gekommen ist.«
»Derlei Überlegungen müsst’ jetzt ihr Kriminalisten anstellen. Ich werde Ihnen jedenfalls meinen ausführlichen Bericht morgen per Fax zukommen lassen. Ich wollte Sie ja nur auf die Schnelle informieren.«
»Ja, danke. Damit haben Sie mir den Feierabend versaut«, brummte Häberle und bedauerte dies beim Auflegen sogleich wieder, schließlich konnte der Mediziner ja nichts dafür. Mit einem Mal war es mit der entspannten Atmosphäre vorbei.
Häberle spürte, wie er noch mehr schwitzte. Jetzt galt es, rasch zu handeln. Als alter Hase wusste er natürlich, was nun zu tun war. Den Chef in Göppingen verständigen, eine Ermittlungsgruppe zusammenrufen. Für viele seiner Kollegen würde dies Überstunden bedeuten. Er blätterte in seinem
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