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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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hüpfte, klitschnass wurde und immer wieder hinaussah auf dieses schäumende, kraftvolle, unbeständige, immer in Bewegung bleibende Stückchen Unendlichkeit, sammelte er Steine und Muscheln, um sie ins Wasser zu werfen. Wir trafen uns dort, wo ich im flachen Spiel der Wellen stehen konnte und er trockene Füße behielt.
    Â»Wir verwandeln uns immer am Meer«, erklärte Marlon und blickte zum Horizont. Ein schmaler Streifen Rot im Dunkelblau von Meer und Abendhimmel zeigte, dass dort die Sonne versunken war. Es sah aus wie eine Wunde, die ins Meer ausblutete, sodass der Tag blasser und schwächer wurde, bis er starb, um dem nächsten eine Chance zu geben.
    Â»Unsere erste Bewährungsprobe ist die Metamorphose. Die zweite der Flug übers Meer.«
    Die romantische Stimmung flog mit den Möwen davon. »Ihr müsst nach der Verwandlung übers Meer fliegen? Aber … das ist doch …«
    Â»Ich vermute, dass wir nach Irland, Schottland oder Wales fliegen«, unterbrach er mich. »Die Richtung stimmt, dort gibt es viele Raben und genug spärlich bewohntes Land. Wir fallen nicht auf.«
    Ich wollte etwas erwidern, doch er hob die Hand, zum Zeichen, dass er mir alles zu erklären versuchte. Aber die ehrlichen Worte fielen ihm schwer. Also schob ich meine Finger zwischen seine und drehte sie ein wenig, sodass mein Puls gegen seine Fingerspitzen pochte. Er brauchte nur einen Takt, dann redete er so frei, wie Vögel fliegen. Ich gab ihm meinen Takt. Er erzählte.
    Â»Der erste Flug ist der wichtigste. Dann zeigt sich, ob man stark genug ist, ob man den Belastungen standhält. Wer abstürzt, fällt ins Meer, ertrinkt und wird von Fischen gefressen.« Marlon zupfte neckend an meinen Haarspitzen. »Vielleicht ja auch von unseren Brüdern und Schwestern aus der Tiefe, Brijans und Seirēns Kindern, wer weiß. In jedem Fall gerät man so nicht in die Hände der Huntsmen. Alles ist besser, als in den Laboren der Jäger zu enden. Und letztlich ist das Meer ein schönes Grab. Viele Vögel sterben beim Flug übers Meer, wusstest du das? Hier schließt sich der Kreis der Lebensräume aus Erde, Luft und Wasser.« Er senkte den Kopf, vermutlich versuchte er ein unglückliches Lächeln vor mir zu verbergen. »Ich fand allerdings immer, dass da noch das Feuer fehlt.«
    Ich war mir nicht sicher, ob er mich beruhigen oder trösten wollte – wenn ja, ging es gründlich schief – oder sich selbst. Ich packte seine Hand fester und rang mir einen entschlossenen Gesichtsausdruck ab. Wenn Marlon nicht genug Mut hatte, brauchte er meinen. Dass er ein weiteres Jahr würde bleiben können, glaubten wir beide nicht. Unser letzter Montag endete jetzt und hier am Meer. Der Dienstag grinste schon hämisch über den Horizont. Die Zeit war ebenso wenig aufzuhalten wie die Wellen.
    Wir gingen zum Hotel zurück, weil ich in den nassen Sachen zu frieren begann. Der Weg durchs Gestrüpp stellte sich in der Dunkelheit als schwierig heraus. Hellgraue Silberpappeln, die aussahen, als hätte sie jemand in Nebelfäden eingesponnen, säumten den Pfad. Es war unheimlich, durch ihre Mitte zu gehen. Ich fühlte mich wie von meinen eigenen Ängsten beobachtet. Ihre Schatten huschten zwischen den bleichen Stämmen umher. Sie flüsterten. Ich spürte es auf der Haut. Unsichtbare Finger hinterließen ein Prickeln in meinem Nacken. In meinen Schuhen schmatzte das Meerwasser bei jedem Schritt verräterisch laut. Ich konnte erst wieder durchatmen, als wir im Hotel ankamen. In unserem Zimmer schleuderte ich alle Kleider von mir, doch das Flüstern hielt sich auf meiner Haut und ich ahnte bereits, dass Duschen zwecklos war.
    In Unterwäsche stapfte ich ins Bad und stieß mit Marlon zusammen, der dieses gerade verließ. Es war eigenartig, denn plötzlich hatte sich etwas verändert. Wir hatten etliche Male zusammen im Bett gelegen, uns berührt und mehr gewollt, ohne den Mut zu finden, diesem Drängen nachzugeben. Dass es heute anders werden würde, wusste ich in dem Moment, als meine Hände auf seiner Brust lagen und seine an meiner Taille. Wir sahen uns an – aber nicht in die Augen, weil in meinen zu viel Wahrheit stand, die ich nicht zugeben wollte. Wohin er sah, wusste ich nicht, aber mein Blick klebte auf seinem leicht geöffneten Mund.
    Â»Küss mich, Magpie«, flüsterte er.
    Ich berührte seine

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