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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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verfügbaren Wolken hingen gerade drohend über unseren Köpfen. Ich war nicht erwachsener geworden, nicht reifer und nicht klüger. Auch Marlon war derselbe geblieben. Wir waren genauso verzweifelt wie zuvor und bemühten uns ebenso, es nicht zu zeigen. Die Zeit raste, und auch wenn wir glaubten, sie aufhalten zu können, indem wir miteinander schliefen und zu einem einzigen glücklichen Wesen ohne Sorgen verschmolzen, mussten wir hinterher immer feststellen, dass wir einer Illusion aufgesessen waren. Die Zeit lief weiter, auch wenn sie es uns nicht wissen ließ.
    Bis Mittwochabend suchten wir ohne jedes Ergebnis.
    Am Donnerstag ging Marlon einen Schritt weiter. Er lehnte sich erschöpft an ein mannshohes steinernes Wagenrad und schüttelte den Kopf. Eine Inschrift besagte, dass an dieser Stelle früher ein Marktplatz gewesen war, doch dann war der Ort größer und der Platz zu klein für die stetig steigende Anzahl an Ständen geworden. Der Markt wurde an eine andere Stelle verlegt. Heute befand sich hier der Parkplatz eines idyllischen Hotelrestaurants mit Reetdach und von Blumen überquellenden Kübeln vor jedem Fenster. Uns waren die misstrauischen Blicke, die man uns durch die Gardinen zuwarf, längst aufgefallen, doch Marlon hatte das ferne Echo einer Stimme im Stein vernommen und wollte nicht gehen, ehe er sich nicht sicher war, dass diese Stimme vollständig verhallt war.
    Â»Nein«, sagte er schließlich. »In diesen Stein war etwas eingesungen, aber das muss Jahre her sein. Ich verstehe es nicht mehr.« Er warf einen Blick zum Restaurant hinüber. »Noa, bitte frag dort mal nach, ob die einen freien Tisch für uns haben. Ich habe Hunger.«
    Ich gehorchte, wunderte mich aber. Marlon hatte selten Hunger. Manchmal fragte ich mich, ob er überhaupt essen würde, wenn mein ständiger Appetit ihn nicht daran erinnerte. Skeptisch warf ich einen Blick über meine Schulter – und mein Blut gefror. Mir wurde mit einem Mal schrecklich kalt und ich wusste zunächst nicht, warum. Marlon tat das, was er immer tat. Er klebte mit der Stirn am Stein und wisperte vor sich hin. Aber etwas war anders, und bevor ich begriff, was es war, spürte ich die Gefahr. Es waren die Töne, die ich vernahm. Nicht akustisch, auch nicht als Laute in meinem Kopf. Sondern als Schmerz in meinem Herzen.
    Ich rannte zu Marlon zurück, rief seinen Namen. Er reagierte nicht. Ich stieß ihn von dem verdammten Stein weg, den er im Begriff war zu besingen. Wir gerieten beide ins Straucheln und fingen uns an der Motorhaube eines parkenden Wagens.
    Â»Spinnst du eigentlich?« In seinem Blick lag Wut, mehr, als er mir je zuvor entgegengeschleudert hatte. »Was soll das?«
    Â»Tu nicht so!«, schrie ich zurück. »Ich weiß, was du getan hast. Bist du jetzt verrückt geworden? Willst du wie diese Frau im Brunnen werden?« Wider Willen schlug ich nach ihm, er bekam meine Hände zu fassen, bevor sie ihn trafen, und zog mich an sich.
    Â»Ich bin vorsichtig, Noa«, entgegnete er versöhnlich. »Ich pass auf, vertrau mir, es wird nichts passieren.«
    Â»Du hast gesagt, dass die Steine mehr verlangen, wenn man einmal zu singen beginnt. Dass sie die Seele versteinern, wenn man ihnen zu viel von sich gibt. Du hast gesagt, dass es eine Sucht ist.«
    Â»Ich dachte, du glaubst nicht an Märchen.«
    Darauf wusste ich nichts zu erwidern.
    Er streichelte mein Gesicht, trieb die Angst, die er heraufbeschworen hatte, wieder zurück und küsste meine Stirn. »Ich verspreche dir, dass ich vorsichtig sein werde. Nur ein Lied, Noa. Ich kann nicht länger untätig sein.«
    Er hatte recht. Mit jedem Tag standen seine Chancen schlechter. Es war Zeit, laut um Hilfe zu schreien, auch wenn man damit möglicherweise Raubtiere anlockte. Das Schreckliche war nur, dass ich nichts dazu beitragen konnte. Ich konnte bloß neben Marlon hocken und seiner tonlosen Stimme lauschen, die eine Warnung an seinen Schwarm in das steinerne Rad sang.
    Ich hatte nicht angenommen, dass es bei diesem einen Lied bleiben würde. Noch am gleichen Tag besang Marlon zwei weitere Steine. Er hörte nicht auf, als ich ihn darum bat, und er hörte auch nicht auf, als ich ihn anschrie. Er hörte erst auf, als er während des dritten Versuchs plötzlich aus heiterem Himmel hohes Fieber bekam. Von einem auf den anderen Moment wirkte er so schwach, dass ich

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