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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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nach Fremden und auf den Tapeten haftete der Dreck von Hunderten Menschen, die hier eine Nacht verbracht hatten. Sicher nicht der Idylle wegen. Nur das Bett war blendend weiß. Die Decke duftete nach Heißmangel, erinnerte mich ans Krankenhaus und gefiel mir seltsamerweise trotzdem. Es fühlte sich herrlich an, nach einer heißen Dusche unter ihr zu verschwinden und mich vom schweren, glatten Baumwollstoff umschmeicheln zu lassen, der kühl blieb und meine Körperwärme nicht annehmen wollte. Ich ließ die Augen zufallen und lauschte Marlon, der mit etwas Abstand bewegungslos neben mir lag und auffällig gleichmäßig atmete. Zu gleichmäßig. Bemüht. Ich spürte, dass er an die Zimmerdecke starrte. Er suchte etwas, das seit dem Morgen nicht mehr da war.
    Â»Man glaubt es nicht, oder?« Er verstand, was ich meinte.
    Â»Nein. Es fühlt sich an wie ein Traum. Es ist, als könnte Corbin jede Minute hier reingestürmt kommen und mich zur Schnecke machen, weil uns die Jäger fast erwischt hätten. Ich muss die Augen offen lassen, denn wenn ich sie zumache, glaube ich, ich wäre zu Hause. Aus dem Zimmer nebenan höre ich seine Gitarrenmusik.«
    Ich legte ihm eine Hand über die Augen. »Riech mal. Und lausch. Fühlt es sich an wie zu Hause?«
    Â»Es fühlt sich an wie bei dir«, antwortete Marlon, nachdem er lange Zeit nur geatmet hatte. »Sag mir eins, Noa. Hört dieses Leere, Ungewisse auf? Ich sollte Trauer fühlen, aber da ist nichts.«
    Â»Die Leere ist die Trauer.« Aus der Leere wuchs irgendwann Schmerz, und gerade wenn man glaubte, diesen nicht mehr aushalten zu können, dann lernte man, damit umzugehen und den Verlust zu akzeptieren, und die Wunde konnte heilen. Aber ich bezweifelte, dass Marlon dazu ausreichend Zeit blieb.
    Ich bezweifelte auch, dass er in dieser Nacht Schlaf finden würde. Mich zog die Erschöpfung irgendwann aus seinem Arm ins Reich der Träume, wo unkommentiert Bilder ohne Zusammenhang auf mich einströmten. Am Morgen erinnerte ich mich an nichts mehr, außer an Joels marmorweißes Gesichtchen. Zum ersten Mal sah ich es ohne Blaulichtschimmer und ohne das Gefühl, schuld an seinem Tod zu sein. Als ich die Augen öffnete, erkannte ich den Grund. Marlon hatte alle Schuld im Zimmer, ach was, vermutlich alle Schuld in der ganzen Stadt, in sich aufgenommen. Sie glomm in seinen Augen, schwarz wie die Nacht.
    Wir verbrachten den Montag mit Nichtstun. Es gab keinen Plan, nichts zu tun, nur jede Menge zu fürchten. Alles, was wir machen konnten, war, durch die kleine Küstenstadt zu streifen, uns nach Raben umzusehen und zugleich zu hoffen, nicht zufällig über jemanden zu stolpern, der nach uns Ausschau hielt. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, denn wir hatten nur noch fünf Tage, um die Harpyien zu finden und zu warnen. Absurd, dass wir augenscheinlich gemütlich schlendernd gegen die Katastrophe kämpften. Krieg verläuft selten wie geplant und manchmal steht man plötzlich mittendrin, obwohl man nie willens oder auch nur bereit war zu kämpfen. Du findest dich einfach auf dem Schlachtfeld wieder. Wenn du überleben willst, dann kämpfst du, ohne zu fragen.
    Und wir hätten wirklich gerne überlebt.
    Am Abend gingen wir zum Meer. Marlon hatte einen Pfad ausgekundschaftet, der für Touristen unattraktiv war, weil man sich zwischen den Weg überwuchernden Sträuchern hindurchschlängeln musste. Für uns war es ideal, zwischen den Büschen zu verschwinden. Wir fühlten uns fast unsichtbar. Einen Deich mussten wir überqueren, dann trennten uns nur noch zehn Meter Strand vom Meer. Ich atmete so tief ein wie in meinem ganzen Leben noch nicht, schmeckte das Salz auf der Zunge und spürte nebelfeine Gischt, die sich auf meine Haut legte.
    Â»Du warst noch nie am Meer?«, fragte Marlon ungläubig, als stünde mir diese Tatsache offen ins Gesicht geschrieben.
    Â»Noch nie.« Ich ging über den Sand, dorthin, wo er nass und fest war und ein Kranz aus hervorquellendem Wasser sich bei jedem Schritt um meine Schuhsohle legte wie ein Heiligenschein. Eine Welle rollte heran, streichelte über das Ufer und floss unter mir hindurch. Ich staunte über die Kraft des Wassers und freute mich wie ein kleines Kind, weil meine Füße bis zu den Knöcheln nass wurden.
    Marlon gab mir Zeit. Während ich mit den Wellen flirtete, über ihre Schaumsäume

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