Himmelsfern
seine Unterarme gegen das Lenkrad und bettete die Stirn darauf. Sein Rücken bebte. Diese Reaktion tröstete mich ein wenig, mit seiner Kälte schaffte er es wirklich, mir Angst einzujagen.
Mir bot das Verschnaufen erstmals Zeit, darüber nachzudenken, was nun weiter geschehen würde. Die Fakten waren, dass die Huntsmen vermutlich längst mehr über mich wussten, als hinnehmbar war. Marlon konnte mich keinesfalls mehr nach Hause begleiten, was bedeutete, dass auch ich nicht mehr dorthin zurückkonnte. Sie hielten mich inzwischen sicher längst für eine Harpyie. Sie würden mir auflauern.
»Noa, bist du okay? Du bist ganz blass.«
Scherzkeks. Wem würde bei solch einer Auto-Stunt-Nummer nicht die Farbe aus dem Gesicht rinnen? Doch Marlon spürte, dass da mehr war. Ihm konnte ich nichts vormachen.
»Ich kann nicht mehr nach Hause, oder?«
Er senkte den Blick. Seine Wangen röteten sich und ich erkannte das dahinter verborgene Gefühl. Scham.
»Marlon, sag mir, woher sie erfahren werden, dass ich keine Harpyie bin, wenn du fort bist.«
Nun schloss er die Augen und nickte, so leicht, dass es kaum zu erkennen war. Bingo. Ich hatte gerade das Problem erkannt, das ihm schon seit Tagen Kopfzerbrechen bereitete.
»Ich werde in diesem Jahr nicht gehen«, antwortete er leise. »Wir werden die Harpyien aufsuchen, meine Familie, wenn du sie so nennen willst. Sie müssen uns sagen, wie wir vor den Huntsmen beweisen können, wer du bist. Normalerweise wäre das kein Problem. Die Jäger beobachten deine Eltern, stellen ihnen vielleicht eine Fangfrage und können sicher sein, ob Harpyienblut durch deine Adern flieÃt oder nicht.«
»Nur dass meine Mutter längst wieder in Japan ist.« Und gefühlt so weit weg wie der Mond.
»Da lag mein Fehler. Das hatte ich nicht bedacht. Den Huntsmen wird es verdächtig vorkommen, dass sie deine Mutter nicht ausfindig machen können. Es sieht aus, als wäre sie geflohen.«
Das Bild vor meinen Augen klärte sich. Ich war also nun nicht mehr eine zufällige Begleiterin des Gejagten. Ich war selbst eine Gejagte. Ich kommentierte das Ganze mit einem »Hm«, da für mehr keine Luft übrig war.
»Hey«, meinte Marlon leise und drehte mein Gesicht in seine Richtung. »Ich lasse dich nicht allein. Versprochen.«
»Schaffst du es denn ein weiteres Jahr?« Erst am Morgen hatte er diesen heftigen Verwandlungsanfall gehabt. Und er glaubte, er würde ein ganzes Jahr durchhalten?
»Na klar.«
Sicher. Und ich war Emma Watson. Er glaubte es selbst nicht, aber ich sollte es ihm abkaufen. Was zum Geier hatte er vor? »Was tun wir jetzt?«, fragte ich.
»Wir fahren ans Meer. Machen Urlaub.« Er spielte die Unbekümmertheit beinahe überzeugend. »Wir finden meine Verwandtschaft und sie geben uns Antworten.«
»Du weiÃt bestimmt, dass sie Antworten haben?«
»Wenn nicht, dann gibt es auch keine.«
»Und was machen wir dann?«
Er sah mich an, ohne dass sich etwas in seiner Miene regte, und doch wurde sein Gesicht finsterer und zugleich wärmer. Ein Schutzwall aus Schwärze, um mich darin zu verstecken. »Dann sorge ich dafür, dass kein Jäger diese Hatz überlebt. Ich schwöre dir eins, Magpie. Wenn ich fortgehe, wirst du sicher sein.«
Wir fuhren mehrere Stunden. Ich hatte den Verdacht, dass Marlon wie üblich Umwege einlegte, um mögliche Verfolger auf falsche Fährten zu locken, aber ich fragte ihn nicht danach, sondern döste, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt. Ein Ortseingangsschild, das so schnell an uns vorbeischoss, dass ich es nur als gelben Klecks wahrnahm, lieà mich hochschrecken.
»Verdammt«, murmelte ich und rappelte mich auf. »Marlon, wie heiÃt diese Stadt?« Ich hatte den Ortsnamen nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen und doch brach mir der Schweià aus. Der Name sagte mir etwas.
»Mitterhafen«, gab Marlon verwundert zurück.
Und nun fluchte ich wirklich, denn diesen Namen kannte ich. Er stand auf dem kleinen Zettel, den ich im Portemonnaie von Stephan Olivier gefunden hatte.
»Sie erwarten uns hier«, stellte ich sachlich fest und hätte am liebsten den Kopf irgendwo dagegengeschlagen. Warum hatte ich diesem Zettel nicht mehr Beachtung geschenkt? Ich hatte ihn vollkommen vergessen.
Wir sahen uns genau um, doch die Ortschaft schien friedlich dazuliegen. Viele
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