Himmelsgöttin
Ärmel über die Augen und blinzelte in die Wellen, die wie Gewehrläufe schimmerten.
Im Mast flatterte etwas, und Tuck korrigierte das Ruder, um am Wind zu bleiben. Das Segel blähte sich wieder auf, doch das Flattern ging noch eine Sekunde weiter, bevor es aufhörte.
Roberto erwischte die Wantenleine, die am Ausleger festgemacht war, und landete kopfunter herumbaumelnd mit Blick auf das Heck des Boots.
Hätte ein Engel in seiner Wantenleine gebaumelt, Tuck hätte nicht glücklicher sein können.
»Roberto?«
»Ja«, sagte der Flughund. Er sprach mit seiner eigenen Stimme und nicht mit der von Vincent. Mit philippinischem Akzent statt Manhattan-Slang.
Tuck wäre beinahe in hysterisches Gelächter ausgebrochen. Seine Stimmungen schlugen nun so rasch und mit solcher Vehemenz um, daß er von der Angst gepackt wurde, mit seinem Verstand könnte es den Bach runtergehen. »Ohne deine Sonnenbrille hab ich dich gar nicht erkannt.«
»Ich nicht mögen Licht«, sagte Roberto.
Tuck schaute hinüber zu Sepie, die noch immer im Bug lag. »Schau mal, Sepie, Roberto ist da.« Das Mädchen rührte sich nicht.
»Du bist sehr traurig wegen Kimi«, sagte Roberto.
»Ja«, erwiderte Tuck. »Ich bin traurig.«
»Er dir sagen, er großer Seefahrer, und du ihm nicht glauben.«
Tuck schaute weg. Fledermäuse hatten irgend etwas an sich, das die Scham mit dem Faktor zehn multiplizierte.
»Du fährst in die falsche Richtung«, sagte der Flughund. »Fahr dahin.« Er deutete mit der Klaue. Der Wind fing sich in seinem Flügel und hätte ihn beinahe um die Leine herumgewirbelt. Er hielt sich mit der anderen Flügelklaue fest und deutete erneut. »Ich meine diese Richtung.«
»Du willst mich verscheißern«, sagte Tuck.
»Diese Richtung.«
»Das ist Norden. Ich fahre nach Guam. Nach Westen.«
»Das ist Westen. Ich bin auf Guam geboren.«
»Du bist ein Flughund.«
»Hast du jemals einen Flughund gesehen, der sich verirrt hat?«
»Nein, aber ich hab auch noch nie einen sprechenden Flughund gesehen.«
»Siehst du?« meinte Roberto, als ob damit alles gesagt wäre. »Diese Richtung.«
Wenn alle Beweise vorliegen – man alle Fakten mit allem abgeglichen hat, was man weiß – und man immer noch planlos umherirrt, ist der Punkt erreicht, an dem man sich von seinem Glauben leiten lassen muß. Tuck steuerte in die Richtung, in die Roberto deutete.
Nur wenige Minuten später sah er sich Vincent gegenüber, der auf einem Haufen Kokosnüsse in der Mitte des Kanus saß. »Nicht dumm, auf den Flughund zu hören«, sagte Vincent. »Ich dachte, du solltest vielleicht wissen, daß die Haifischmenschen demnächst ein paar Leitern bauen.«
»Na, das ist ja mal eine nützliche Information«, erwiderte Tuck.
»Das wird sie noch sein«, sagte Vincent und verschwand.
58
Malinks Lied
»Der neue Pilot wird morgen eingeflogen«, sagte Sebastian Curtis. »Ich habe ihnen gesagt, daß Tucker nicht fliegen wollte und deswegen eliminiert werden mußte. Sie waren nicht sehr glücklich darüber, das Herz und die Lunge zu verlieren.«
Beth Curtis saß an ihrem Schminktisch und legte das Augen-make-up für ihren Auftritt als Himmelsgöttin auf. Der rote Schal hing über der Rückenlehne ihres Stuhls. »Hast du die Datenbank überprüft? Vielleicht können wir ihnen einen anderen Satz Organe mitgeben. Ich kann den Auserwählten heute nacht herauspicken, und wir halten ihn in der Klinik bis morgen früh fest.«
»Der Kunde ist bereits gestorben«, sagte Curtis.
»Oh, dann muß er wohl wirklich krank gewesen sein«, sagte sie lachend. Es war ein Mädchenlachen voller Musik.
Sebastian liebte ihr Lachen. Er lächelte ihrem Spiegelbild über die Schulter hinweg zu. »Ich bin froh, da du dir wegen Tucker Case keine Gedanken machst. Ich verstehe es jetzt, Beth. Ich war eifersüchtig.«
»Tucker wer? Oh, du meinst Tucker-Case-verstorben-auf-See? Bastian, Liebling, was ich getan habe, habe ich für uns getan. Ich dachte, daß ich ihn dadurch unter Kontrolle halten könnte. Schreib es einfach ab, als einen kleinen Fehltritt, den einem das Leben so beschert. Außerdem, wenn er bis jetzt noch nicht tot ist, wird er's spätestens in zwei Tagen sein.«
»Immerhin hat er's über das offene Meer hierher geschafft. Durch einen Taifun.«
»Und mit einem Navigator. Denk dran, ich habe gesehen, wie er geflogen ist. Er ist tot. Vermutlich sitzt gerade in diesem Augenblick der alte Kannibale über seinen Knochen und nagt das letzte bißchen Fleisch ab.« Sie
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