Himmelskinder
Jetzt an. Er sog die Luft in vollen Zügen ein, verdrängte die heutige Jugend und deren Vorlieben und auch gleich Trüstedt, Schlechtriem & Co. aus seinen Gedanken.
Im Park kaufte er sich ein Eis und ließ sich auf eine der weißen Holzbänke mit Blick auf den kleinen See nieder. Er blinzelte in die Sonne und wollte noch nicht in Trüstedts Wohnung gehen. Ich döse ein wenig, dachte er schläfrig. Da sollen einem ja schon mal die besten Ideen kommen.
Als er die Augen wieder aufschlug, gingen zwei hübsche junge Frauen in Sommerhemdchen an ihm vorbei, die mit den winzigen Ärmelchen und den tiefen Ausschnitten. Sie lachten und sahen sich nach ihm um. Er lächelte zurück und stand auf. Ob er mit offenem Mund gedöst hatte? Janne hat ihm einmal vorgemacht, wie er dann aussah. Na ja …
Die Poststraße lag zu seiner Linken. Als er in sie einbog, wappnete er sich gegen das, was ihn dort erwartete. Nachdem er aufgeschlossen hatte, ging er als Erstes in die übersichtliche Küche und machte sich einen Kaffee. Die Abarisco, die er sich eingesteckt hatte, holte er aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Küchentisch, wie einen Rettungsanker, der ihm den Halt in einer anderen Welt, draußen, versprach.
Wie konnte jemand Jahr für Jahr in einer solchen Tristesse leben? Jemand, der immerhin Sprachen studiert und sich lange im Ausland aufgehalten hatte? Und, grübelte Alvermann, jemand, der doch wohl für die Schönheit der Musik ein Ohr zu haben schien? Er dachte an seine eigene Wohnung und versuchte sie mit den Augen eines Menschen zu sehen, der etwas über ihn erfahren wollte. Würde man ihm gerecht werden, wenn man von der Unordnung und dem vielen Zeugs, das herumstand, auf ihn schließen würde? Im Gästezimmer blieb gerade Platz für den Wäscheständer; ansonsten machten sich dort seine Akkordeons und alte Socken breit. Gäste hätten es schwer, sich willkommen zu fühlen. Aber er hatte ja auch selten welche, die über Nacht blieben, und, fiel ihm ein, überhaupt hatte er nur selten Gäste.
Ihn lud ja auch niemand ein.
Genau.
Alvermann setzte sich mit dem Kaffee an Trüstedts Tisch, und die Einsamkeit kroch aus allen Ecken auf ihn zu. Er versank in Gedanken und war bald bei seinem jüngeren Bruder angekommen, sah ihn strahlend auf seinem Mofa zum Fußball fahren. Er zog die Rettungsleine, stand auf und öffnete das Küchenfenster.
Womit fange ich an?, überlegte er gerade, als sein Handy klingelte. Meiners meldete sich und wollte wissen, was es Neues gab. Er selber komme nicht so recht voran. Alvermann fasste kurz die Aussage von Julia Boers zusammen.
»Und, Meiners, was denkst du jetzt? Immer noch kein Fremdverschulden?«
Meiners passte die Entwicklung nicht. Er hätte seine Hand für Schlechtriems Schlussfolgerungen ins Feuer gelegt.
»Sieh an, so tot war er also doch nicht. Könnte doch postkoitaler Suizid sein.«
»Mensch, Meiners, Kempa hat nichts in der Richtung gefunden!«
»Ja, stimmt! Na, da muss Schlechtriem eine Hundertachtzig-Grad-Wendung hinbekommen, und das wird ihm nicht ganz leicht fallen.«
Meiners war ein Sturkopf – wie übrigens alle Männer des KK11 und König eigentlich auch –, so viel stand fest, aber er begriff rasch und konnte noch während der Fahrt den Zug wechseln. Das versöhnte die Kollegen meist. Manchmal führte es aber auch zu wüsten Beschimpfungen.
»Johanna könnte Schlechtriem mal ganz vorsichtig von der Seite anquatschen. Ruf sie mal an; sie ist doch gerade bei ihm.«
»Gute Idee«, fand Meiners, »obwohl … große Hoffnungen habe ich nicht. Also, dann.«
So, weiter jetzt, seufzte Alvermann. Er nahm sich Zimmer für Zimmer vor, klopfte Wände ab, suchte in den Schränken, in den wenigen Fachbüchern, schüttete Zucker und Mehl aus und öffnete Packungen von gefrorenem Fleisch und Gemüse – ohne Resultat.
Gut, dass mich Schlechtriem nicht sieht! Der würde unter der Decke kreisen. Und wahrscheinlich hätte er recht. Aber hier irgendwo muss doch was zu finden sein, Unterlagen, mehr als die beiden Fotos, und Briefe, irgendetwas.
Alvermann steigerte sich in die Vorstellung hinein, entscheidende Hinweise zu finden, wenn er nur gründlich genug suchte.
Nachdem er auch im Schlafzimmer das Unterste zuoberst gekehrt und mit Gewalt den Boden des Kleiderschranks aufgebrochen hatte, sah die ehemals ordentliche Wohnung wie ein Saustall aus.
Anschließend zwang er sich noch einmal in den peinlich aufgeräumten, eigentlich so gut wie leeren Keller Trüstedts.
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