Himmelskinder
seiner Reise durch das südliche Kasachstan vor sich her. Die wenigen Menschen, die in dem kleinen Ort südöstlich von Birlik lebten, waren abgeschnitten von allem, was hinter den Feldern und dem Wald lag. Seit Tagen wütete der Sturm jetzt schon, zerrte an den Fensterläden und versuchte sich im Kräftemessen mit den Dächern der Häuser. Niemand ging ohne triftigen Grund aus dem Haus.
Jakow Kusnezow saß neben dem Ofen und überlegte, wie lange der Holzvorrat noch reichen würde. Immer die gleichen Fragen um diese Zeit. Von den 40 Kubikmetern war schon weit über die Hälfte verbraucht. Sie könnten das Bett seiner Mutter noch verbrennen, das war es dann aber auch schon. Jakow rieb seine Hände über dem Ofen.
Er hörte seine Frau im Haus wirtschaften, von Kira kein Lebenszeichen. Wahrscheinlich hatte sie sich wieder in irgendeines seiner Bücher vergraben.
Mittags rief Agnessa von irgendwoher aus dem Haus:
»Jakow, hörst du? Der Sturm scheint nachzulassen und weiterzuziehen. Es wird ruhiger!«
Tatsächlich, durch das Schneetreiben zeigten sich die Konturen des Nachbarhauses.
»Ich kann schon wieder Wolkows Haus sehen, endlich!«
Es dauerte nicht mehr lange, bis die ersten Holzläden aufgeklappt wurden. Männer stiegen aus den Fenstern, um ihre Haustüren vom Schnee zu befreien, der eineinhalb Meter und höher lag.
Auch Jakow war inzwischen draußen. Agnessa hörte ihn durch die starken Holzwände des Hauses. Erst schaufelte er wie besessen eine schmale Schneise von der Tür bis zur Dorfstraße, dann versuchte er sich an dem gefrorenen Holz. Als er wieder in die Küche kam, war es schon längst dunkel. Er zog seine Handschuhe aus. Die Wunden an seinen Händen eiterten, obwohl er sie jeden Morgen mit einem Gemisch aus Maralwurzeln und Chili einrieb. Als Agnessa seine Hände sah, schüttelte sie den Kopf.
»Du sollst deine Hände einreiben, das habe ich dir schon so oft gesagt. Maralwurzeln sind das Beste! Aber ihr Männer wisst ja immer alles besser.«
Jakow blieb stumm. Was hätte er auch sagen sollen? Er setzte sich auf die Bank am Ofen und zog die schweren Schuhe aus. Agnessa überlegte einen Moment, mit ihm zu sprechen, ließ es dann aber. Sie schnitt ein Stück Hammelfleisch in Streifen und gab es in den Topf mit dem Reis, der auf dem Ofen köchelte.
Kira hörte die Stimme ihrer Mutter und kam aus ihrer Kammer, noch versunken in Nurpeissows Beschreibungen des sterbenden Aralsees. Ihr magerer Körper steckte in einem viel zu großen alten Wollpullover ihres Vaters. Mit ihren kurzen blonden Locken hätte sie ein Junge sein können.
»Papa, Nurpeissow hat doch als Erster über den See geschrieben, oder?«
»Das Buch war lange verboten, aber ihm ist es gelungen, hinter dem Rücken der Politiker den Inhalt woanders zu veröffentlichen. Ein mutiger Mann.«
»Wieso war es verboten, wenn es doch gestimmt hat? Die Menschen konnten sich ja gar nicht schützen, und die Kinder haben weiter das schlechte Wasser getrunken.«
»Die Plantagenbetreiber an Amudarya und Syrdarya denken nach wie vor nur an ihre Gewinne, und niemand hindert sie daran, obwohl jetzt alle Bescheid wissen über den See – und über die Kinder.«
»Warum ist das so auf der Welt, Papa? Das ist so gemein. Wenn ich groß bin, werde ich das ganz anders machen!«
Agnessa war dem Gespräch nicht gefolgt; ihre Gedanken waren mit anderem beschäftigt. Jetzt erst schien sie ihre Tochter wahrzunehmen und griff nach deren Schulter:
»Wenn du groß bist, wirst du hoffentlich nicht mehr in alten Säcken rumlaufen.«
Kira schüttelte ihre Mutter unwillig ab. Sie wollte weiter mit ihrem Vater über eine bessere Welt reden.
»Ich mache eine Zeitung, Papa, wo nur Sachen drinstehen, die stimmen. Und ich lasse auch nichts weg, nur weil es andere so wollen.«
»Es gibt viele Menschen, die so anfangen, Kira, dann aber im Laufe der Zeit ihre Kraft verlieren und sich den Mächtigeren beugen.«
»Ich nicht, Papa, du wirst es sehen. Ich werde es so machen wie Nurpeissow.«
Als Jakow nach der Teekanne greifen wollte, sah sie seine wunden Hände.
»Papachen, ich wollte doch Holz hacken. Meine Hände sind noch gesund, guck doch.«
Sie hielt dem Vater ihre kleinen, harten Hände entgegen.
Dass sie schon vierzehn Jahre alt war, sah man ihr nicht an. Sie sah nicht einmal wie zwölf aus.
Agnessa hatte die beiden allein gelassen. Sie ging in die Schlafkammer und setzte sich auf das Bett. Sie tastete ihren Bauch ab. Zu fühlen war noch nichts, aber sie
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