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Himmelskinder

Himmelskinder

Titel: Himmelskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Feldhausen
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wusste, dass sie wieder ein Kind erwartete.
    Das zweite ist unterwegs, und Kira wächst nicht, weil es nicht genug zu fressen gibt. Ich kann das nicht aushalten, was soll so ein Leben? Warum versteckt sich unser Gott vor all dem Leid?
    Sie ging in den Vorratsraum und machte ihre tägliche Bestandsaufnahme, als ob es davon mehr würde. Den Zorn, der in ihr hochkam, meinte sie scharf und bitter auf der Zunge schmecken zu können. Sie wollte schreien, mit den Fäusten auf die leeren Bretter schlagen, damit der Zorn sie nicht auffraß. Sie ging in die Küche zurück und zog den Mantel ihres Mannes und seine schweren Stiefel an.
    »Ich hole noch mehr Holz. Wer weiß, wie es morgen aussieht. Die Wölfe werden auch wieder auftauchen. Entweder rast der Sturm ums Dorf oder die Wölfe. Wie ich diese Viecher hasse!«
    Der Frühling war gekommen, und Agnessas Bauch war deutlich zu sehen. Sie und Jakow hatten darüber gesprochen, das Dorf zu verlassen und in die Stadt zu gehen, vielleicht nach Kazalinsk, und dort in der Fabrik zu arbeiten. Ein Sohn der Wolkows hatte bereits Interesse gezeigt, ihr Haus zu übernehmen.
    Jakows Großvater hatte das Haus gebaut, und von den Feldern, die sie bearbeiteten, hatten schon seine Urgroßeltern gelebt. Ihm fiel es schwerer als Agnessa, die Zelte hinter sich abzubrechen. Irgendwann später kam Agnessa und sprach über die Männer aus Kazalinsk, die Anfang Mai wiederkommen würden.
    »Kira würde es gut haben. Sie könnte als Kindermädchen arbeiten und abends in die Schule gehen und die Sprache lernen. Jakow, später könnte sie eine Ausbildung machen. Die Männer kommen in ein paar Tagen. Der Junge von Artjom geht auch mit. Für ein paar Tenge kann man Mitglied in der Organisation werden und hat dann das Recht, sein Kind mit nach Deutschland zu schicken.«
    Jakows Einwände, man wisse doch gar nicht, in welche Familien die Kinder kämen und ob das mit der Schule stimme, hatte sie nicht gelten lassen. Sie erinnerte ihren Mann an die beiden Mädchen, die letztes Jahr mitgefahren waren und an die Fotos, die ihre Eltern aus Deutschland bekommen hatten. Die beiden waren neu und sauber gekleidet gewesen. Auf einem Foto waren sie vor einem schönen Backsteingebäude zu sehen, umgeben von vielen anderen jungen Menschen. Sie hatten auf die Rückseite des Fotos geschrieben, das sei ihre Schule, in der sie die deutsche Sprache lernten. Ihr Vater war mit dem Foto zu einer Familie im nächsten Ort gegangen, deren Urgroßmutter deutsch lesen konnte. Er hatte sich das Wort »Berufsschule«, das auf einem Schild vor dem Gebäude zu sehen war, übersetzen lassen. Außerdem hatten sie Postkarten geschickt, denen zu entnehmen war, dass es ihnen gut gehe, wenn sie auch fleißig lernen müssten.
    Jakow hatte schließlich mit Kira gesprochen. Sie hatte es nicht glauben wollen:
    »Ich soll so weit weg von euch, Papa? Nein, das will ich auf keinen Fall, und du doch auch nicht, oder? Das ist bestimmt Mamas Idee gewesen.«
    Kiras Angst war für Jakow unerträglich. Er war schon bereit einzulenken, als Agnessa in die Küche trat.
    »Ich habe den Mitgliedsbeitrag bezahlt und Kira angemeldet.«
    Jakow widersprach nicht und fügte sich wie seine Tochter.
    Den Blick aber, den Kira ihrem Vater zuwarf, würde er sein Leben lang nicht mehr vergessen können.
    Im Laufe der Zeit schien Kiras Groll auf ihre Eltern nachzulassen. Stattdessen begann sie, Interesse für die Veränderung zu zeigen. Sie las alles, was in Jakows Bücherschrank über Deutschland zu finden war, machte sich Notizen und schien bereit für das Abenteuer.
    Am neunten Mai, dem Tag des Sieges über den Faschismus, waren die Männer aus Kazalinsk gekommen.
    »Papachen, wenn wieder Winter sein wird, musst du gut auf deine Hände aufpassen. Ich kann das ja nicht mehr. Und die Mama hat mit dem neuen Kind zu tun.«
    Jakow hatte keine Worte. Er nickte nur.
    Als Kira in das Auto der Männer einstieg, drückte er ihr eine kleine Schachtel in die Hand. Nachdem die Autotüren geschlossen waren und sich das Fahrzeug in Bewegung setzte, beugte sich Kira aus dem Fenster und winkte ihrem Vater. Das Letzte, was er von ihr sehen konnte, waren ihre blonden Locken. Er lief dem Auto hinterher, bis es hinten am Horizont verschwand und er kaum noch Luft hatte. Er setzte sich mitten auf die Straße.
    Kira saß lange regungslos neben dem älteren Mädchen aus Khantau, und erst viel später öffnete sie die Schachtel, das Geschenk ihres Vaters. Darin lagen die Ohrringe seiner

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