Himmelskinder
Mutter, die Kira eigentlich erst zu ihrem achtzehnten Geburtstag hätte bekommen sollen.
19
Schon bei der Morgenbesprechung am Freitag war Alvermanns Gruppe lustlos. Auch die letzte Vermisstenanzeige, das Mädchen aus Belgien, die zum Schluss noch in Frage kam, konnten sie nach Eingang des Zahnbefundes ausschließen. »Wieder eines dieser Kinder, um die niemand trauert, die niemand vermisst und deren Beerdigung das Sozialamt zahlt«, – so hatte Alvermann das ausgesprochen, was in den Köpfen seiner Leute umging.
Für wie viele Kinder wird das noch zutreffen, bis ich in Rente gehen kann?, überlegte König.
Anrufe hatte es nach den Presseveröffentlichungen viele gegeben, Spinner und Wichtigtuer, die das Team wertvolle Zeit kosteten, aber auch ernst zu nehmende Meldungen, denen sorgfältig nachgegangen werden musste. Das würde noch Tage in Anspruch nehmen, und mit Nachzüglern war auch zu rechnen. Zu den Ohrringen hatte sich niemand gemeldet. Und heute waren noch einmal Fotos von dem Mädchen in den Zeitungen erschienen.
Masur stöhnte, als Alvermann die Telefonnotizen auf die Gruppe aufteilte.
»Neunundneunzig Prozent Abfall und endlose Stunden dank der vielen Idioten, die nur dumm quatschen, bis wir einen brauchbaren Hinweis finden«, schimpfte Meiners.
Am Abend, nach weiterer intensiver Ermittlungsarbeit, saß die Gruppe im Gelben Zimmer zusammen. Alvermann war noch kurz in Ellen Neussers Büro gewesen. Sie hatte inzwischen Kontakt zum Jugendamt aufgenommen und sich über Frederiks Familienverhältnisse informiert. Sie teilte ihm das Wichtigste in Kurzform mit:
»Sein Vater hat sich vor der Geburt davongemacht, der Stiefvater säuft und schlägt dann zu. Meistens hat es Frederik abgekriegt, die eigenen Kinder behandelt er besser. Die Mutter hat dem Jugendamt mitgeteilt, dass Frederik abgehauen ist, nachdem er wieder mal Prügel bezogen hat und ihr Mann dann über sie hergefallen ist, als sie den Jungen beschützen wollte. Anfang März soll das gewesen sein. Jetzt ist er bei einem Paar, das Bereitschaftspflege macht und Erfahrungen mit schwierigeren Fällen hat.«
»Ja, das weiß ich, war schon da.«
»Mehr ist da nicht zu tun, Erik.«
»Na denn.«
Die Kollegen warteten ungeduldig, die Stimmung war gereizt. Den Tag über waren wieder etliche Anrufe hereingekommen, die aber wenig erfolgversprechend schienen. Gröbner hatte sich hin und wieder sehen lassen und sich unzufrieden zu den bisherigen Ergebnissen geäußert. Sie hätten nicht ewig Zeit, hatte er tatsächlich verlauten lassen, es warte genug Arbeit im Dezernat, die auch getan werden müsse.
»Als brauchten wir jemanden, der uns ständig in die Eier tritt. Wir gehen schon alle auf dem Zahnfleisch«, hatte Alvermann gewütet. »Was willst du? Der ist von Bergen verwöhnt«, klang Masur verbissen. »Wenn du dich vielleicht erinnern möchtest: Ich habe neulich noch eine kleine These genau zu diesem Thema veröffentlicht. Willst du sie noch einmal hören?«
Bulleken hatte sich hauptsächlich mit aktenkundigen pädosexuellen Straftätern beschäftigt. Die Aktenberge von 1999 hatte er ebenfalls gründlich durchforstet und Alvermann bereits seine Sicht der Dinge mitgeteilt. Jetzt sollte er die Gruppe in Kenntnis setzen. Ulfert Nieheim käme in Betracht. Der habe zu den damaligen Freiern gehört, sei aber schnell von der Bildfläche verschwunden. In Berlin und Sachsen sei er dann wieder auffällig geworden, und zwar einschlägig, Verhaftungen habe er sich immer durch Flucht entziehen können.
»Das sollte uns interessieren«, hob Bulleken hervor, »bisschen viel Zufall, oder? Offensichtlich bekam er immer rechtzeitig einen Tipp. 2004 ist er hier gesehen worden. Der letzte Haftbefehl ist noch gültig. Wenn der uns ins Netz ginge, kämen wir sicher ein Stück weiter. Dann noch ein ›Guido‹, der von den Opfern als gewalttätig beschrieben wurde. Erinnerst du dich, Masur? Auf seinen Namen bin ich mehrmals gestoßen. Aber er ist nie identifiziert worden, oder?«
Masurs Augen, die bis dahin halb geschlossen waren, öffneten sich.
»Richtig, der wurde nie identifiziert. Und als wir kurz davor waren, hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren beendet und Anklage erhoben, allerdings nur gegen den Betreiber des Bordells. Interessant, was? Wir konnten noch froh sein, dass sie das Verfahren nicht gänzlich eingestellt haben.«
Alvermann stand auf und ging zum Fenster.
»Gut, da bleibt Bulleken dran, Masur, verstanden? Erst mal nur Bulleken! Noch
Weitere Kostenlose Bücher