Himmelsmechanik (German Edition)
Pfarrer. Der Pfarrer segnete die Toten, so, wie sie waren, danach brauchte der Arzt mehrere Stunden, um die Pfähle aus den Leichen der Frauen herauszuziehen, dass ihre Glieder nicht beschädigt wurden. Jener Pfarrer und jener Arzt überlebten den Winter ’44 nicht: Beide wurden an verschiedenen Tagen und an verschiedenen Orten mit derselben Anklage auf Sabotage und Banditentum erschossen. Als man von Orto di Donna erfuhr, gingen die Hirten, die noch nicht auf die Sommerweide hinaufgezogen waren, los und zündeten den ganzen Talkessel an, und in diesem Sommer wurde kein einziges Vieh mit seinem Gras gefüttert, kein einziger Eimer Milch wurde von diesem Weideland gewonnen. Wie gesagt, die Menschen wollten nichts weiter als leben.
Am Sonntag will ich hinaufgehen, sagte mir Nita gestern Morgen, während sie sich das Gesicht einseifte. Damit meinte sie, dass es nun meine Aufgabe sei, die Sonne wieder scheinen, das Eis schmelzen und die Wege wieder instandsetzen zu lassen. Es ist nicht gesagt, dass es mir gelingt.
»Hinauf« ist, wo sie hinpilgern geht. »Hinauf« ist Orto di Donna.
Die Frauen gehen dorthin, um zu beten, damit die Liebe ihre Geliebten rettet. In dieser Angelegenheit sind sie sehr hartnäckig. Es ist bekannt, dass sie nie allein gehen, sondern in Gruppen und Brigaden, um sich Mut zu machen und miteinander zu scherzen. Sie nehmen zu essen und zu trinken mit, Decken, um sich hinzulegen, und Zigaretten zum Rauchen; von zu Hause nehmen sie den schönsten Käse, den sie finden können, und die am besten verkorkte Flasche aus dem Keller mit, und sie lassen sich von den Bäckereien extra das Kartoffelbrot backen. Nita backt ihre berühmten Biskuits und legt sie in ein Leinentuch, wo sie ruhen und abkühlen; dann legt sie sie vor der Abreise mit zauberhaften Händen in eine Blechschachtel, die sie in ihren Rucksack steckt, gegen jedes logische Kriterium rationalen Gepäcks.
Diese Schachtel, auf der ein kleines Motiv im alten schottischen Stil aufgedruckt ist, hatte sie schon bei sich, als sie zum ersten Mal hierherkam, und daraus habe ich sie, je nach Gelegenheit, alles Mögliche entnehmen und hineinstecken sehen. Aus dieser Schachtel holte sie eines Tages das Foto des großen Champions William Grover-Williams heraus. Dorthin steckt sie, um sie vor dem Wind zu schützen, die Pfingstrosenblüte, die sie am einzigen, einzigartigen Tag ihrer Blüte auf der Argegna pflücken geht; sie tut das, obwohl die Forstbehörde das Pflücken mit einer schwindelerregend hohen Strafe belegt. Von dort pflückt sie sie mit einer Geste der Verwunderung, noch rot wie fließendes Blut, damit ich sie unversehrt auf dem Altar unserer häuslichen Laren niederlege.
In dieser Blechschachtel bewahrt sie ihre Namensliste auf. Die Namen, die sie trägt, als wären es ihre, und dabei werden sie aus der Liste geholt, die sie in ihrer Schachtel aufhebt. Sie wählt sie in einer Reihenfolge aus, die ich nicht kenne, außer, dass sie sie als regelmäßig wiederkehrende Namen benutzt: Angela, Antonella, Domenica, Errica, Anna, Maria, Margret, Sonia, Patrizia, Silvana, Manuela, Natalia, Marina, Annamaria, Elisabetta, Eleonora, Velia, Viviana, Catherine, Helen, Loredana, Angelica, Mirella, Katia, Euridia, Nilla, Franca, Rita, Flavia, Rosella, Brigitte, Mariangela, Verdiana, Carla, Vincenzina, Berta, Lina, Rosina, Irene, Lidia, Idria. Es sind so viele. Sie trägt sie eine Zeit lang und dann schaut sie in die Schachtel und tauscht sie aus. Das ist merkwürdig, da gibt es nichts zu sagen, aber es ist kein Problem: Hier im Revier sind Namen aus alter Gewohnheit eine sehr persönliche und private Angelegenheit. Außer wenn es natürlich die Beziehungen zur Behörde berührt, und dann heißt einer so, wie es im Personalausweis steht, und die Sache interessiert nur die Behörde. Der Omo Nudo gab seiner Zuchtsau den Namen Angela, weil sich meine Frau ungefähr vor einem Jahr so nannte, als die Königinmutter seines Schweinestalls diejenige auf die Welt brachte, die zur offiziellen Erbprinzessin für die Fortdauer der Spezies gewählt wurde. In diesen Tagen höre ich, dass er, wenn sie miteinander sprechen, sie anspricht, als wäre sie Sonia, ohne offenbar noch irgendeine Erinnerung an Angela zu haben. Der Omo Nudo ist ihr gegenüber anpassungsfähiger und nachgiebiger als ich, besser geeignet, ihr zuzuhören, wenn sie ihr Innerstes aus ihrer Blechschachtel herauszieht, eine Schachtel, die so anders ist als die, die er mir damals geschenkt hat. Er wäre
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