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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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Wachtposten des Stammes geholfen, der in einem versteckten Wiesenland hinter den Gipfeln lagerte. Der Stamm war befreundet und alle in diesem Gebiet, wenn sie noch am Leben waren, waren Freunde des Königs. Dieses war Freundesland, und als der Prinz vorbeikam, blühten die Pfingstrosen, die dort immer eine rosafarbene Blüte hatten, plötzlich auf und nahmen die Farbe des Blutes an, das seine Kleidung befleckte. Sie wurden empfangen und geliebt, der König und sein Sohn, und das Stammesoberhaupt schlug vor, dass seine eigene Tochter versuchen sollte, dem sterbenden Prinzen das Leben zu retten. Dieses junge Mädchen war von perlfarbener Schönheit und alter Weisheit, und man hörte über sie weit über die Grenzen ihres Stammes hinaus nur Gutes. Sie beherrschte perfekt die ärztliche Kunst und ihre Behandlungen, und sie widmete sich Tag und Nacht der Rettung des kleinen Prinzen. Sie hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt, eine Liebe, wie sie nur bei reinster, unschuldigster Jugend vorgesehen ist, und beim Bewundern des wenigen Lichts, das noch in seinen Augen schimmerte, konnte sie wohl hoffen, dass sie erwidert würde.
    Einen ganzen Winter blieb sie an seinem Kopfende und entfernte sich nur, um die Heilkräuter zu sammeln, die sie in ihrem Garten anbaute, dem
orto di donna
, dem Frauengarten. Und ihre Liebe wuchs von Tag zu Tag, so wie beim ganzen Stamm und beim Königsvater die Hoffnung auf eine wundersame Heilung wuchs. Doch als wäre er taub gegenüber der ganzen Liebe und jeder Medizin, wurde der Prinz von Tag zu Tag immer schwächer; unweigerlich verbrauchte sich sein Lebenssaft. Und im Frühjahr starb er.
    Von diesem Moment an geht die Geschichte nicht mehr um Könige und Prinzen, um Kriege und Stämme, es ist nur noch die einer jungen Frau. In einer Verzweiflung ohne Pause und Frieden versteifte sie sich darauf, nur zu leben, um jeden Tag ihren Schmerz zu erneuern und ihn stärker zu machen. Ihre Wissenschaft hatte versagt, und vor allem hatte ihre Liebe versagt. Nichts von dem, was sie wusste, war von Nutzen gewesen, und nichts von dem, was sie empfand, hatte Früchte getragen. Die Liebe, die sie erfüllte und sie wie ein tiefer Bach bis zum unbekannten Äußersten auswusch, war für das Leben ihres Geliebten nicht genug gewesen. Und sie fing an zu weinen und hörte nicht mehr auf. Sie weinte im Sommer und das Wiesenland breitete sich aus; sie weinte im Winter und ihre Tränen wurden zu Eishaufen. Sie ging über das Eis ihres eigenen Schmerzes hinauf und weinte immer noch, bis aus ihrem Schmerz ein Gebirge entstand. Ein Gebirge aus zu schneeweißem Eis geronnenen Tränen. Ein Gebirge, das strahlt, bis es die Augen schmerzt, ein Gipfel, der den Namen Pisanino trägt, weil er daran erinnern soll: dass für einen jungen Krieger aus den Ebenen von Pisa so sehr geweint wurde, dass daraus ein Berg entstand.
    Und an diesem Punkt kommen die Götter. Denn nicht anders als bei den anderen launischen Gottheiten der menschlichen Kindheit machen sich die gefürchteten und eigensinnigen antiken Götter der Einheimischen bemerkbar. Zu diesem Zeitpunkt können sie zwar nichts wirklich Gutes mehr tun, aber lindern können sie noch. Sie lösen also ein so mächtiges Erdbeben aus, dass sie das Profil der Berge um den Pisanino herum verändern, und rufen das Mädchen, ihre Arbeit zu betrachten. Sieh mal, schönes Mädchen, sagen sie zu ihr, deine Liebe sei auf ewig belohnt. Steige ruhig auf deinen tränenreichen Kalvarienberg, doch wenn du auf dem Gipfel deines Pisanino bist und gegen Abend deinen Blick leicht nach Süden wendest, wirst du von da an damit getröstet werden, dass du das Gesicht deines Geliebten für die Ewigkeit versöhnt ruhen siehst. Und tatsächlich bildeten sie durch das Erdbeben den Omo Morto, den Gebirgsgrat, der besonders am Abend genau das ist, was der Name besagt, ein Mann, der in Ewigkeit auf dem Rücken ruht. Kompliment.
    Alle Frauen kennen diese Geschichte auswendig, und wenn sie sie seit zahllosen Generationen untereinander weitergeben, tun sie das mit einer Fülle von Details und Begeisterung, und es pilgern nach Orto di Donna Mütter mit ihren Töchtern, Tanten und sogar Großmütter mit ihren Nichten und Enkeln, zu dieser einzigen Gelegenheit schamlos miteinander vertraut. Nita kommt von auswärts und hat nicht viele Freundinnen, und manchmal ist es ihr sogar lieber, allein dorthin zu gehen. Dann will sie, dass ich sie bis zum Ende der befahrbaren Straße begleite und sie dann dort wieder

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