Himmelsmechanik (German Edition)
was daraus entstehen wird. Und das, was entstehen wird, wird der Index und das Glossar meines Lebens sein, und der Leben, die mit mir schwanger waren. Jetzt, wo die Duse nicht mehr da ist und mir nichts mehr beibringen kann, hätte ich gern etwas mehr gelernt.
Vor einigen Jahren hat die Santarellina Tetanus bekommen; es war zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft, und wenn man die Geschichte dieser Infektion rekonstruiert, dann hat sie sie sich dabei geholt, als sie über ein Stück Zaun vom Hühnerstall stolperte, als sie herbeigelaufen kam, um Italien zu sehen. Sie war kurz davor zu sterben, denn im Bezirkskrankenhaus denkt niemand mehr an Tetanus, wenn da eine alte Frau auftaucht und von Krämpfen geschüttelt wird. Die Santarellina ist noch am Leben, weil, wie sie sagt, auf der Welt noch Platz war; und weil die Tochter von Vittorio, eine Kardiologin und fast noch ein Mädchen, sich in den Kopf gesetzt hatte, auf der Suche nach Anzeichen außer in ihrem Herzen auch in ihren alten Gliedern zu suchen. Tetanus ist kein so schlimmer Tod: Der Körper geht langsam Stück für Stück seinen eigenen Weg, und das letzte, was sich verabschiedet, ist das Gehirn. Natürlich nur, wenn sie dich an eine Maschine hängen, die die Arbeit der Lungen übernimmt, die weit vor dem Gehirn zum Teufel gehen. Die Santarellina sagt, als ihr nur noch dieses letzte Stück von ihr, ihre Denkfabrik geblieben war, habe sie eine unaufhaltsame Lust bekommen, all das zu sagen, was ihr in ihrem langen Leben voller tragischer Abenteuer durch den Kopf gegangen war, und was sie noch niemandem erzählt hatte. Sie sagt, sie habe eine plötzliche Lust bekommen, große Romane zu schreiben. Sie sah alles klar, sie hatte auf einen einzigen Schlag alles begriffen, was ihr und Italien und der ganzen Welt in diesen achtzig Jahren geschehen war. Sie wusste, wie sie das alles sagen sollte, es lag ihr auf der Zunge. Die Santarellina weiß das nicht, aber ihre plötzliche blendende Erleuchtung ist eine Nebenwirkung der Endphase der Infektion: Sie nennt sich Hyperluzidität. Es ist, als ob, nachdem sie darauf verzichtet hatte, ihren Körper zu beherrschen, dem Gehirn eine Menge Energie übrigbliebe, die es schließlich in der reinen und freien intellektuellen Spekulation einsetzen kann.
Ein Großteil dieser Romane wurde geschrieben. Nicht von der Santarellina, deren höhere Künste schon seit mehreren Wochen unbenutzbar waren und die ein genetisches Misstrauen gegen die eigene Schrift hatte, sondern von der Duse. Die Duse war die ganze Zeit bei ihrer Freundin im Krankenhaus und diente ihr als Schreiber. Es gibt also mehrere Hefte bei ihr zu Hause, Hefte, die noch niemand aufgeschlagen hat, die die Romane der Santarellina an die Nachwelt überliefern, ihr ganzes äußerstes Bewusstsein von sich selbst und der Welt. Das hat mir die Santarellina persönlich berichtet, aber sie hat nicht gesagt, dass ich sie lesen kann, wenn ich will. Früher oder später wird das Haus der Duse ausgeräumt, gereinigt und verkauft, und dann stellt sich das Problem, was man mit diesen Heften tun soll, und die Santarellina beabsichtigt nicht, mir bei der Entscheidung zu helfen. Natürlich hat die Duse sie mir gegenüber nie erwähnt; vielleicht sind sie bei diesem Haufen von Heften, die meine Mutter im Laufe ihres Lebens mit allerlei Themen und Fragen gefüllt hat. Sie sind da, ich habe sie gesehen, als ich noch ein Kind war, die Hefte mit den Liedern, die sie spielte, die mit dem Tagebuch ihres Tropengartens, und die Hausaufgaben für ihren Sohn natürlich. Die, die ihr Sohn gemacht hat, und die, die er hat sein lassen. Ich weiß, dass sie in den Heften auch die Märchen sammelte, die an den Abenden erzählt wurden, und vielleicht wird da auch ein Roman sein: Obwohl sie nie von Tetanus gequält wurde, litt die Duse immer an Hyperluzidität. Ich kann mir vorstellen, dass ich in all diesen Romanen, die im ganzen Berg linierten Papiers mit der schulmeisterlichen Schrift der Duse liegen, den Weg zum Verständnis finden könnte. Doch um zu verstehen, müsste ich eine Intimität verletzen, die mir nicht gewährt wurde, die ich mit einem Akt meines Willens verletzen und wofür ich in den Augen derer, die mich gezeugt und ernährt haben, die Verantwortung übernehmen müsste.
Ich weiß nicht, wir werden sehen. Vielleicht einigt sich Nita mit der Santarellina und kümmert sich selbst darum, ob aufheben oder vernichten, erfahren oder es sein lassen. Jedenfalls wurde mir wenigstens etwas von der
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