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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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literarischen Aktivität der Santarellina offenbart. Sie hat mir Wort für Wort den Brief wiedergegeben, den sie ihrer Freundin dik- tierte und der regulär abgeschickt wurde. Es ist ein Glückwunschbrief an Herrn Lippi, den Trainer der Fußballnationalmannschaft, die sich bei der Weltmeisterschaft hervortat, während sie Romane erfand. Die Santarellina ist für Juventus, wie es bei allen Engländern des Reviers die Regel ist, sie ist aber auch nobel sportlich und kennt die Bedeutung des Herrn Lippi und tut sie kund.

Orto di Donna
    Als im Herbst die Alliierten kamen, waren die Duse und die Santarellina am Ponte, um sie zu erwarten. Die Duse hatte das Akkordeon mitgenommen, die Santarellina hatte eine kleine Sichel zum Grasmähen im Leinenbeutel, den sie an ihre Taille gebunden hatte. Die Idee, auf die Brücke zu gehen und sie zu erwarten, stammte von der Duse. Am Abend, als sie mir ausführlich von meiner Zeugung erzählte, wollte sie nicht auf die Gründe eingehen, die sie auf die Brücke geführt hatten. Wenn es stimmt, dass mein schmeichelndes Seelchen in der Lage war, alle Dinge zu fassen, hätte ich auch dieses Detail begreifen können. Aber sie hielt es nicht für nötig, darauf einzugehen, als ob die Sache an sich von keiner Bedeutung wäre. Sie ging ihrem Schicksal entgegen, dass sie dorthin ging, war jedenfalls notwendig: Wenn du dort erwartet wirst, dann gibt es keinen anderen Ort, an den du gehen kannst. Auch die Santarellina glaubt, sich nicht an dieses Detail zu erinnern: Man ging dorthin, sobald der Kanonenbeschuss aufgehört hatte, und für St. Remigius herrschte eine solche Kälte, mein Kind, dass mir die Klinge der Sichel den Bauch gefrieren ließ. Wir waren den Krieg leid, das ist alles, was sie dazu noch sagt.
    In Wirklichkeit hatte der Krieg erst begonnen. Aber Sant’Anna und Borgiolo und Forno und San Terenzo hatten schon stattgefunden. Und noch früher, als es noch Juni war, war der Vorfall von Orto di Donna geschehen. Und dann der von der Valanga an der Pania della Croce und so weiter. Hier erinnern sich alle an alles, auch die, die nicht dabei waren; diejenigen, die noch geboren werden sollten, wissen davon mehr als alle anderen. Und sie sind es, die sprechen, die schreiben. Die, die im Sommer ’44 hier waren und dann im August und schließlich im Winter dieses Jahres, wenn sie noch das Glück haben, am Leben zu sein, sagen wenig oder nichts, und am wenigsten schreiben sie. »Wir waren den Krieg leid«, das scheint für sie alles zu sein, was es zu sagen gibt, sogar für die, die eine Silbermedaille für militärische Tapferkeit hinten in der obersten Schublade der Kommode haben. Vielleicht in ein kleines Bündel, ein rotes Halstuch eingewickelt, verblasst bis auf die Knochen, wie die goldene von Verano. Die ich gesehen habe, nachdem ich einige Jahrzehnte lang davon reden gehört hatte, am Tag, als sein Sohn mich bat, sie für ihn aufzubewahren, weil er nach England fuhr und nicht wollte, dass sie allein im Haus blieb, wo sie bisher wie die ewige Glut der Feuerstelle einer alten Familie gehütet wurde. Jetzt liegt sie in der kleinen Blechdose für die Dinge, die zählen.
    Das Schweigen wirkt eher bewahrend als auslöschend, und von ’44 wurde alles bewahrt; an einem Ort in der Seele dieser Menschen, der trocken ist, trocken wie der Winter an Lichtmess; ein spitzer, verhornter Knochen, der kaum aus dem Rest der Gebeine herausragt. Eine genetische Last, die, wenn diejenigen, die damals gelebt haben, schließlich sterben, weiterhin in den Nachkommen ihrer Kinder schmerzen wird; und wenn es feucht wird, dann spüren sie, je nach ihrer Position, wenn sie sich hinsetzen oder hinlegen oder aufstehen oder sich herumrollen, wenn sie sich lieben, genau an jenem Punkt dieses Knochens einen leichten Schmerz. Und wenn sie fragen, wird der Arzt es sich nicht erklären können, und sie werden sich nicht mehr erinnern können, woher er kommt. Doch er wird bleiben, anders als alle Wörter in allen Büchern und alle Kongresse über dieses Thema. Es gibt ein paar Straßen, die den Namen der Vorfälle dieses Jahres tragen, und es gibt Erinnerungstafeln und Gedenksteine. Es gab einmal eine Zeit, da kamen die Behörden, um die Umstände und Jahrestage zu feiern, jetzt lassen sie sich schon seit einer Weile nicht mehr blicken. Und das ist besser so. Sie kamen und schnappten sich ein paar Überlebende, ein paar Medaillen, ein paar Legenden, und ließen sie einige Stunden lang kerzengerade dastehen und sich

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