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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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den Straßen, weil man ihnen Fahrzeuge gegeben hatte, die sie nicht fahren konnten, und man ihnen nicht erklärt hatte, wie; während sie die neuen Waffen ausprobierten, weil sie nicht wussten, wie sie funktionierten, und man ihnen auch das nicht erklärt hatte.
    Der Erste, der durch das Feuer eines Kameraden starb, hieß Antenor Chirlanda, stammte aus dem Staat São Paolo, und mein Vater hatte sich während der Überfahrt mit ihm angefreundet. Es war keine schöne Fahrt für Antenor: Alle zogen ihn auf und nannten ihn Mussolini, aufgrund einer erstaunlichen Ähnlichkeit mit dem italienischen Diktator, den zu bekämpfen sie unterwegs waren. Mein Vater tröstete ihn und erzählte ihm vom alten Antenor, seinem Namensvetter, dem weisen, weitsichtigen Trojaner, der den Krieg hasste und am Ende einer der wenigen war, die die Zerstörung ihrer Stadt überlebten. Er erzählte ihm, wie er es schaffte, nach Italien zu gelangen, genau in jene Gegend, wohin sie fuhren, und lange genug zu leben, um sogar eine neue Stadt zu gründen, eine Stadt, die sie bald befreien würden und die noch seinen Namen trug, den Namen Antenore.
    Doch so war es nicht, und Antenor Chirlanda kam nicht einmal bis nach Padua, weil die vereinfachten Thompson-Gewehre, die man ihnen gegeben hatte, um den Diktator Mussolini zu besiegen, schadhafte Sicherungen hatten. Übrigens hatte sich Antenor freiwillig gemeldet, nicht um die Welt zu sehen, sondern nur, um sich nicht bei der Kaffeeernte zu Tode zu schuften. Es gab nur wenige Freiwillige wie ihn im brasilianischen Kontingent; einige Kleinkriminelle, die so um ihre Strafe herumkamen, aber meistens Jungen vom Land, die sich ehrlich einen Lohn verdienen wollten, ohne sich der Sklaverei auf einem Latifundium aussetzen zu müssen.
    Und dann war unter ihnen mein Vater. Der weder ein Krimineller noch im engeren Sinne einer vom Land war. Man kann sogar sagen, dass mein Vater sich aus einem Motiv poetischer Natur freiwillig gemeldet hatte. Und auch wenn er nur eine Waise in der Masse der über den brasilianischen Kontinent verstreuten Waisen war, war er keine X-beliebige von ihnen.
    An ihn erinnert sich der große Schauspieler und Regisseur Orson Welles. Er erzählt, dass er ihn getroffen und mit ihm gesprochen hat. Er berichtet von jenem Treffen und der daraus folgenden kurzen Unterhaltung in den Heften, die er während der Aufenthalte vor den Aufnahmen zu einem seiner innovativen, aber erfolglosen Filmwerke geführt hatte. Der Streifen hieß
It’s all true
, ein sehr ehrgeiziges Projekt, in dem der Regisseur sich bemüht haben soll, nur die Wahrheit der vielen menschlichen und sozialen Begebenheiten zu zeigen, die er auf einer langen Reise durch den lateinamerikanischen Kontinent erlebt hatte. Hätte die Produktionsgesellschaft, mit der er sich eingelassen hatte, sich später nicht geweigert, ihn zu drehen, wäre mein Vater einer der Darsteller geworden. Das war die Absicht von Herrn Welles. Damals war er ein vielversprechendes und angesehenes Genie auf der Suche nach neuen intellektuellen Anregungen, mein Vater ein Junge von dreizehn, vierzehn Jahren, der an den Landungsbrücken der Flussmärkte bei Santarém herumlungerte. Ein verhinderter Kinostar, wie es scheint, auch wenn Herr Welles ihn nicht über die ihn betreffenden Pläne informiert hatte.
    Von diesen Plänen spricht er in seinen Tagebüchern und in einem langen Interview, das er vierzig Jahre danach als schon alter Mann einem englischen Fernsehsender gab; über meinen Vater sagt er, dass die Begegnung mit diesem Jungen ihn zu einer radikalen Meinungsänderung bezüglich des Kontinents geführt habe, den er gerade durchfahren hatte, während er Tausende nutzloser Meter Film drehte, und dass sie ihn dazu gebracht hatte, seine filmischen Absichten zu überdenken. Er ergänzt, dass es sich um diese Art unvorhersehbarer Begegnungen handelte, die dazu dienen, ein künstlerisches Bewusstsein heranreifen zu lassen, und was die kurze Unterhaltung mit dem jungen Chico betraf, so sei diese so viel wie die Lektüre des
Sommernachtstraum
wert gewesen.
    Ich habe also von Orson Welles erfahren, dass mein Vater Chico hieß; wie der Junge nachdrücklich betonte, war sein Name Domenico, bei allen als Chico bekannt. Die Duse hat mir nie seinen Namen gesagt, die Duse hat immer nur von »deinem Vater« und »meinem Liebsten« gesprochen. Die aus dem Tal, die ihn gekannt haben, sprachen einfach vom »Brasilianer«. Ich habe nie jemanden gefragt, wie mein Vater hieß, und

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