Himmelsmechanik (German Edition)
das war gut, vielleicht eine Warnung: Chico ist ein Name, der ganz und gar nicht zu einem legendären Vater passt, jedenfalls nicht, wie er hier im Tal klingt.
Folgendes also sagt Orson Welles über meinen Vater. Er befand sich schon seit geraumer Zeit mit einer kleinen Truppe am Amazonas, mit der er Material drehte, wobei er Ideen folgte, die ihm Tag für Tag kamen, und in regelmäßigen Abständen schickte er den Film in die Vereinigten Staaten, und zwar über die Verbindungen der Flussboote. Als er eines Abends auf das Postboot wartete, in einem kleinen Hafen, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnerte, einer der vielen, die er vorgefunden hatte, mit einem Landungssteg aus Holz, einem Verkaufsladen aus Bohlen, einem Platz aus gestampfter Erde, einem Cashewbaum und ein paar Mangobäumen. In Wirklichkeit wusste er nicht einmal genau, ob er am Amazonas war oder am Rio Tapajós, denn in jener Gegend ist der Verlauf des größten Flusses der Welt und seiner Nebenflüsse so verzweigt, dass er unerforschlich erscheint. Er wartete auf das Boot und rauchte eine dicke Zigarre: Damals war er noch sehr jung und schüchtern, und Zigarren rauchen verlieh seiner Figur als großer Junge etwas Erwachsenes; er brauchte eine Pose als selbstsicherer Mann, denn er war momentan allein und musste den Ansturm der Verkäufer von Kokoswasser und Zuckerrohrsaft und diverser ausgehungerter Bettler zurückweisen.
Es war ein sehr heißer Nachmittag, der Himmel war schwer und grau und in jenem Moment machte der Fluss den Eindruck eines riesigen unbeweglichen Sees, an dessen Oberfläche in breiten, langsamen Spiralen jede Art von in Zersetzung befindlicher Materie köchelte; Welles hatte die schlechte Idee gehabt, unter einem der Mangobäume Schutz vor der Hitze zu suchen, und der Geruch der reifen Früchte verursachte ihm Übelkeit. Er hatte diesen Jungen bemerkt, der seit einer Weile um ihn herumschlich, so wie ausgehungerte Hunde das tun, und dabei eine immer engere Spirale zog und ihm ab und zu schräge und traurige Blicke zuwarf. Er schien nichts zu verkaufen zu haben, denn er hatte nichts in den Händen, er trug ein paar kurze Hosen und nicht einmal ein Unterhemd. Er war nicht anders als die anderen Jungen, denen er entlang des Flusses begegnet war, er hatte den gleichen schlenkernden und schiefen Gang, den gleichen intelligenten und aufmerksamen Blick, nur dass seine Haare kurz und lockig waren, in einer für diese Gegend seltenen dunkelbraunen Farbe.
Wegen der Merkwürdigkeit dieser Haare ließ er, anstatt seine Zigarre weiterzurauchen, den Jungen zu sich kommen. Sie sprachen Italienisch miteinander, denn Herr Welles hatte Probleme mit dem Portugiesischen, und Chico kannte die Sprache, die der Regisseur bei einem Aufenthalt in Italien radebrechen gelernt hatte. Er fragte den Jungen, ob er etwas wolle, und der antwortete, er wolle nur wissen, ob er zufällig Grieche sei. Das schien ihm eine vollkommen ungewöhnliche Frage zu sein, gestellt von einem halbnackten Jungen an einem schwülen Abend auf einer verfaulten Mole des Amazonas oder des Rio Tapajós. Und so erkundigte er sich.
Der Junge wollte einen Griechen kennenlernen und dachte, er könne einer sein, weil er groß und bärtig war wie die Griechen. Im Falle, dass er Grieche sei, müsse er ihm eine Frage stellen.
Herr Welles sagte ihm die Wahrheit, also nein, er sei kein Grieche, doch er fügte eine Lüge hinzu, also dass er seine Frage ruhig stellen solle, er sei zwar Amerikaner, doch würde er Griechenland gut kennen. Da rieb Chico sich die Nase und bat ihn, er solle ihm vom griechischen Meer erzählen. Das erzählte Orson Welles dem Fernsehinterviewer, und er war so über diese Frage verblüfft, dass er den Jungen nahm und sich mit ihm in die Baracke setzte, die als Verkaufsladen diente, ihm einen frischen Saft anbot und ihn auszufragen begann.
Chico träumte seit Jahren vom griechischen Meer, seitdem man ihm eine Geschichte vorgelesen hatte. Chico war kein Analphabet wie so viele dort; Chico war zur Schule gegangen und hatte Dinge gelernt, die ihm sein ganzes Leben im Herzen bleiben würden. Das sagte sein Lehrer: Er würde sie für immer im Herzen tragen; und aus diesem Grund sei sein Herz viel größer als das normale Herz eines Analphabeten. Sein Lehrer war ein Pfarrer.
Es war ein sehr alter und sehr kranker Pfarrer, doch er hatte, als er noch jung war, begonnen, die Waisenkinder der Fazendas längs des Flusses zu unterrichten. Er lebte schon seit hundert Jahren im
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