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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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man weiß, dass man nach Saurem duftet. Es ist schön, dieses Mädchen zu küssen, das dir den ganzen Weg gefolgt ist, ohne zu fragen, wohin und warum, es zu küssen und sich dabei umzusehen, ob der Bauer wirklich seine Arbeit beendet hat und für eine Weile nicht auf seinen Acker zurückkommt. Dort, an den Tagen, die St. Remigius noch wie Sommer erscheinen lässt, um die zu trösten, die wenig geerntet haben und noch darauf hoffen, mit etwas spätem Obst entschädigt zu werden, dort, die Jacke unter den größten Apfelbaum geworfen, ist es schön, auch nur dazuliegen und einen kleinen Apfel zu essen und die Hufe des Damwilds zu hören, das sich im fernen Unterholz bewegt und auf den Abend wartet, um seinen Anteil an den Früchten zu genießen. So ist es auch alleine schön, und schon seit Jahrzehnten mache ich es so, denn mit der Zeit habe ich gelernt, dass es besser ist, weniger verheißungsvolle, aber dauerhaftere Stille zu wählen, und Mädchen, die schon satt an Saurem und neugierig auf anderes sind.
    Doch in jenem Herbst neigten die Duse und mein Vater gewiss nicht zur Sattheit, und, so glaube ich, sie waren auch nicht gerade neugierig auf anderes. Wenn sie verliebt waren; und das kann ich nur vermuten, denn weder am Abend der Erzählung von der unbefleckten Empfängnis noch später erinnere ich mich, gehört zu haben, dass die Lehrerin Duse das Verb »sich verlieben« oder das Substantiv »Verliebte« ausgesprochen hätte. Worte, die ich erst später und anderswo hörte; insbesondere hat sie an jenem Abend nur »Liebe« gesagt, und die Duse kannte die italienische Sprache gut und wusste, wie man sie unterrichtet.
    Kann man vielleicht lieben und der Liebe Ausdruck verleihen, ohne sich deshalb verliebt zu haben? Warum nicht? Hat sich Maria vielleicht in Josef verliebt? Sie hat ihn geliebt, so sehr geliebt, dass sie ihm ihr Geheimnis anvertraute; wenn Maria sich überhaupt verliebt hat, dann wegen des Verkündigungsengels, dessen, was zu sagen er gekommen war. Und mein Vater? Wer war mein Vater, Josef oder der Erzengel Gabriel?
    Nach dem, was ich gesehen habe, war er nur ein Junge. Und konnte vielleicht ein Junge, irgendein gesunder Junge, sich nicht in die Duse verlieben? Und sei es auch nur wegen ihrer Haare, wegen ihres Akkordeons, wegen ihrer Stimme? Und sie so besitzen, unter einem Apfelbaum? Das ist keine Sache der Duse, es liegt nicht in der Art meiner seligen Mutter, sich von einem Geschöpf des Herrn besitzen zu lassen; vielleicht von ihren exotischen Pflanzen, doch sonst von niemandem. Sie betonte, dass mein Vater einen zartfühlenden Charakter und ein weiches Herz hatte. Sie sprach nie von Lagerstätten in den Blättern und leidenschaftlichen Küssen, von Galanterie und Freigebigkeit, sondern wie sie abends auf dem Geländer der Brücke saßen und über wundersame Dinge sprachen, die er im Herzen hatte. Wie sie versuchten, nie aufzuhören zu reden; und wie sie, als der Schlaf sie übermannte, anfingen, gemeinsam die Füße gegen das Mäuerchen zu schlagen, und ihre Holzschuhe hatten einen hohen Klang und seine Militärstiefel einen tiefen Klang, und das war wie Musik. Bis er in sein Feldlager zurück musste, und dann begleitete er sie bis zu ihrer Haustür, wo die Santarellina ihre Sichel in Reichweite an einem Nagel des Türpfostens hängen hatte.
    Die Duse hat mir vom Segenswunsch berichtet, mit dem er sie jedes Mal verließ; den er flüsterte, sagte sie, als wäre es das Schönste der Welt, was er ihr als Erinnerung hinterließ: Schöne Nacht ohne Mond.
    Sie hat ihn mir mehrmals wiederholt, jedes Mal mit etwas mehr Sanftheit und Melodie, damit es so weit wie möglich der Art und Weise entsprach, wie er ihn ausgesprochen hatte, mit dem speziellen unnachahmlichen Akzent meines Vaters, mit seinem unnachahmlichen Zauber. Die Duse hat sich sehr bemüht, damit ich auch lernte, diesen Gruß zu wiederholen, und zwar richtig, denn es war das Romantischste, was ihr von diesem Mann je gesagt wurde, und sie forderte jeden Mann, mich eingeschlossen, heraus, etwas Besseres zu finden. Irgendein Mann, der ihr etwas Schönheit in einer Nacht ohne Mond schenken kann, der etwas von der Liebe weiß, irgendeine Frau, die fähig ist, etwas Schönheit in einer Nacht ohne Mond zu finden, hat alles gelernt, was sie von der Liebe braucht. Das hat sie mir gesagt, und infolge ihrer schulmeisterlichen Ehrlichkeit hat sie noch ergänzt, dass in jenem Herbst ’44 niemand, dem ein menschliches Wesen am Herzen lag, im Traum daran

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