Himmelsmechanik (German Edition)
populären Kunstgeschichte zu Hause haben, um, wenn man irgendeine der Tafeln des Meisters von Borsigliana betrachtet, die Illusion zu haben, vor einem Gemälde von Giotto zu stehen. Denn es ist dasselbe, und man muss jemanden, der davon etwas versteht, aus Florenz kommen lassen, und dann noch einen aus Rom, damit der dir, nachdem er den halben Tag mit Lampen und Linsen um sie herumgeschlichen ist, sagt, dass es kein Giotto ist, und dir den Unterschied erklärt. Natürlich ist es nicht Giotto, die Gesichter und die Hände der Heiligen sind anders, die Augen und das Lächeln der Madonnen, und die Bäume und das Profil der Berge hinter den Bäumen. Auch manche Blumen in den Gärten sind anders. Doch es ist, als wäre er es, als hätte Giotto hundert Jahre und länger gelebt und wäre, um seine Arbeit zu vollenden und ein paar Bergbewohner mit seiner Kunst zu erfreuen, in einem beschissenen Häuflein von Häusern auf der einsamsten und zugigsten Anhöhe dieses Tals zu neuem Leben erwacht.
Und auch wenn dem nicht so wäre, bliebe dennoch das zweite Wunder der Schafe; denn Giottos Schafe sind ein und dieselben Schafe in seinem ersten und in seinem zweiten Leben; keine Schafe aus Siena oder Rom, nicht aus Monte Oliveto, aus Umbrien oder aus Massa, sondern völlig zweifelsfrei die unverwechselbaren Schafe dieses Tals, unsere hässlichen aschgrauen Schafe mit grässlicher Wolle und köstlicher Milch, in diesem Revier geboren, aufgewachsen und nie von hier weggegangen.
Sollte etwa der große Giotto, noch als junger Schäfer und Knecht, zum Weidewechsel hierher geschickt worden sein? Sollte er, nach seinem Umzug nach Borsigliana, dem Ort ausgezeichneter Weiden aufgrund der sehr reinen Luft, gar eine junge Frau des Ortes geschwängert haben, bevor er zu seinem Ruhm entschwand? Eine zarte Erinnerung an seine frühe Jugend, zu der er gern zurückkehrt, sobald er ein kleines Schaf braucht, um einen Hintergrund zu verzieren. Vielleicht hätte dann diese Bergbewohnerin, immun gegen Tuberkulose, eine so gesunde und widerstandsfähige Sippe begründen können, dass sie sich bis zu einem Jungen fortsetzen konnte, der zwar weniger zur Schafzucht geeignet war als seine Verwandten, der aber etwas in den Händen hatte, das ihn zwang, einen Weg zu finden, diese dreizehn Tafeln mit der Unterschrift
Magister Borsilianii
zu malen.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie er das hinbekommen hat, von diesem Ort aus, den ich gesehen habe. Wie er auch nur lernen konnte, einen Pinsel in der Hand zu halten, die Farben zu mischen, herauszufinden, dass er Altartafeln oder irgendetwas anderes malen wollte. Zu lernen, seinen Namen zu schreiben und vielleicht auch zu lesen. Wie er den Weg finden konnte, dorthin zu gehen, wo man Farberde und Pinsel verkaufte, und den Apennin bis nach Assisi zu überqueren, um sich mit dem wiederzuvereinigen und in dem wiederzuerkennen, was von derselben Hand getan worden war, die nun nach Fortsetzung verlangte. Wie er den Geruch nach Kuhmist mitnahm, den nur Terpentin vertreiben konnte.
Und selbst wenn es kein Geheimnis gäbe, ist da immerhin dieser Mann, der Tafeln à la Giotto für das Glück seines Volkes malt, das wie jedes andere ein Recht darauf hatte, auch wenn es für mehrere künftige Jahrhunderte Analphabet in Literatur und Kunst bleiben und nur wissen wird, dass es von einem Wunder besucht worden ist. Wenigstens das. Nazzareno kommt von dort und führt das Werk auf seine Weise fort. Und seine Nachbarn gehen zu ihm nach Hause, und wenn er nicht da ist, wissen sie, wo der Schlüssel ist, stöbern in den Haufen und nehmen ein, zwei oder drei Aquarelle mit nach Hause. Sie lassen ihm Eier da, weil er nicht weiß, wie man Hühner hält, sie lassen ihm Blumensträuße da, weil er die so gerne mag und sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass er früher oder später seinen Pflanzenhorizont erweitert, sie lassen ihm frisch gebackenes Brot da und gehen nach Hause zurück, während sie Aquarelle in traditionellem Stil in den Händen halten, so schön, dass sie ihren Augen wie Wunder erscheinen. Sie werden sie in grässliche, auf dem Chinesenmarkt gekaufte Rahmen stecken und sie von Generation zu Generation weitervererben, bis jemand von außerhalb kommen wird und sie stiehlt oder verehrt. Und auch das ist alles wahr.
Und jetzt, da ich neuen Atem geschöpft habe, gehe ich weiter hinauf. Die letzte Stufe nach Colle. Es ist ein dreihundert Jahre alter Wald, der von seinem Volk als Park zur freien Benutzung gehalten wird. Als
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