Himmelsmechanik (German Edition)
einziger und unersetzlicher Leser des Buches der
Ilias
. Er war aber auch stark genug geworden, um das Haus des Pfarrers zu verlassen und zu versuchen, seinen Weg zum blauen griechischen Meer zu suchen.
Er hatte das Haus verlassen, obwohl der alte Mann ihn angefleht hatte zu bleiben; wenigstens noch ein bisschen, wenigstens solange er noch leben würde, um ihm den Schmerz zu ersparen zu sehen, wie sein Haus zerfiel und seine Jungen sich in Nichts auflösten. Er schwor ihm, dass er nicht mehr länger als zwei, drei Jahre leben würde. Aber Chico tat dem alten Mann diesen großen Schmerz an, und der Alte gab zu, dass die Schuld nur bei ihm selbst lag, in der Verrücktheit, mit der er ihn in all den Jahren genährt hatte; er gestand, dass sein blasphemischer Stolz als Nachkomme der heidnischen Götter des Olymp über seinen Wunsch nach Erlösung gesiegt hatte und dass er sich also glücklich fühlte, dass Chico seiner Sehnsucht folgte. Er gab ihm ein paar Adressen im Bundesstaat, zu denen er gehen und nach Arbeit fragen könnte, und das Bündel, mit dem er, kaum mehr als ein Säugling, zu ihm gekommen war. Im Bündel war ein wenig Zuckergebäck, falls er unterwegs Hunger bekäme, und das Buch, das der Sinn seines ganzen Lebens gewesen war. So erspare ich dir, es mir zu stehlen und eine Todsünde zu begehen, sagte er zu ihm und schickte ihn weg.
Chico kam in die Hauptstadt Manaus und begann in einer Kautschuk-Raffinerie zu arbeiten; er schlief unter einem Dach aus Palmenblättern am Fluss gleich außerhalb der Stadt, zusammen mit einem Dutzend Kollegen, und niemand wollte etwas mit ihnen zu tun haben, weil sie immer nach ihrer Arbeit stanken. Als er erfuhr, dass Herr Welles sein Versprechen gehalten hatte, badete er einen ganzen Morgen lang im Fluss, dann ging er ins Theater. Er war der Erste und musste den ganzen Nachmittag warten, bis die Tür geöffnet wurde. Er trat ein, setzte sich in die erste Reihe und wartete.
Als der Saal voll war, wurde es dunkel und der Vorhang ging auf. Der Vorhang war so groß und aus so feinem Stoff, dass er ein Geräusch wie eine Hochwasserwelle am Fluss machte. Herr Welles stand da, allein, von einem weißen Licht angeleuchtet, das von der Decke kam. Er war genauso, wie er ihn in Erinnerung hatte, nur größer als beim letzten Mal; sein Bart ähnelte nun dem des Gottes Zeus. Herr Welles sah alle Anwesenden einen nach dem anderen an, und es waren sicher mehr als tausend. Und er sah natürlich auch Chico an und erkannte ihn und lächelte ihm zu. Und er begann Zaubertricks mit Spielkarten und Kaninchen und Taschentüchern in jeder Farbe zu machen, und während das ganze Theater ihm applaudierte, sah er Chico an und lächelte. Als würde er diese Spiele nur zu seiner Unterhaltung machen und wäre nur seinetwegen, um sein Versprechen zu halten, zum Amazonas zurückgekehrt. Dann beendete Herr Welles seine Spiele und begann zu sprechen.
Er hatte eine andere Stimme, als Chico in Erinnerung hatte; oben von der Bühne tönte seine Stimme nun im Theater, als würde der Gott Zeus persönlich zu den Sterblichen sprechen, und wenn er je die Gelegenheit hätte, die Stimme seines Vaters zu hören, dann wollte er, dass sie wie die von Herrn Welles klang. Er sprach wie ein starker und gerechter Vater; das ganze Theater hörte in aller Stille zu, und es waren fast alles Männer, meistens junge Müßiggänger, die in der Kautschukkrise gerade ihre Arbeit verloren hatten und beim Herumbummeln durch die Stadt die Anschläge gelesen hatten. Er sprach mit ernster und ehrlicher Stimme, und beim Zuhören konnte keiner daran zweifeln, dass seine Worte wichtige Wahrheiten waren. Er sprach von der Freiheit, dem heiligen Recht auf Freiheit eines jeden Menschen und aller Völker, er sprach vom Weltkrieg, der von Menschen entfesselt worden war, die jegliche Form von Freiheit hassten. Er beschrieb in den kleinsten Details, wie die Welt aussehen würde, wenn diese Menschen den Krieg gewinnen würden. Und wie ihr wunderschönes und hoffnungsvolles Land dann aussehen würde. Er sprach von den Hoffnungen dieser Menschen, die ihm mit offenem Mund zuhörten, als würde er sie schon seit ihrer Kindheit kennen. Er sprach von der Freiheit, die sie noch nicht hatten und die sie in einer wirklich freien Welt endlich bekommen könnten, als lebte er mit ihnen und hätte mit ihnen auf den Straßen von Rio gegen die Vargas-Regierung demonstriert. Er erzählte diesen Menschen, wie schwierig es sei, keine Arbeitergewerkschaft zu
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