Himmelsmechanik (German Edition)
Kompanie meines Vaters auf der neuen Frontlinie von Mozzano in Stellung gegangen, am Abend des nächsten Tages in Porretta, zehn Kilometer Luftlinie von der Brücke. Eine unüberwindliche Distanz, die bis zum späten Frühjahr des darauffolgenden Jahres niemand überschreiten konnte. Genau gesagt, bis zum 22. April ’45, als endlich alle gehen konnten, wohin sie wollten.
Inzwischen ging die Angriffswelle schnell über die Brücke hinweg und hatte sich am Abend schäumend unten im Tal gebrochen. Das Mädchen, das sich verliebt hatte, blieb allein, doch alle waren allein geblieben. Allein im Winter.
Die Duse hat mir vom letzten Mal erzählt, als sie meinen Vater sah: Es war eine ganz besondere Gelegenheit, so wie das Schicksal letzte Male haben will. Es war am Heiligabend, und sie wollten einander Glückwünsche überbringen; die Duse hatte ein Geschenk dabei und war sehr stolz darauf: Sie hatte sich eine ganze Woche lang Tag und Nacht darauf vorbereitet, ihrem Geliebten auf dem Akkordeon vorzuspielen, nur für ihn. Es war eine Musik, die ihr sehr gefallen hatte, als sie in Lucca Klavierunterricht hatte; es war sehr schwer, wirklich gut zu spielen, doch es war ihr erstes Weihnachtsgeschenk, es war das schönste, was sie für ihren Geliebten gefunden hatte, und passte gut zu einem Heiligabend. Es war eine besondere Musik, es war ein langsamer Tanz, so schön geschrieben von einem Franzosen in Erinnerung an ein Kind, das er liebte und das gestorben war. Aber keinesfalls traurig, nur schön und sehnsuchtsvoll; und sie hatte es ausgewählt, weil sie dachte, dass es genau das war, was sie ihrem Schatz sagen wollte. Dass es nun das Kind, das dort unten im Haus eines Pfarrers aufgewachsen war, nicht mehr gab; es gab nicht mehr den kleinen Jungen, der auf den Landungsstegen auf jemanden wartete, der ihm den Weg zum blauen griechischen Meer wies.
Sie wollte für ihn die ganze Sehnsucht spielen, die sie für dieses Kind empfand, die ganze Zärtlichkeit, die er in ihrem Herzen vergossen hatte; aber sie wollte, dass er in dieser Musik auch die Liebe hörte, die sie für den Mann empfand, dem sie auf der Brücke begegnet war, dem Mann, der mit dem Krieg gekommen war, der Krieg, der das Kind zum Verschwinden gebracht hatte. Sie würde ihn nehmen, ihn an einen Ort am Kiesbett des Flusses führen, würde ihn auf einen schönen Felsen setzen, und sie würde sich vor ihn hinstellen und spielen, spielen, bis sich ihre Finger von den Händen gelöst hätten.
Das hat sie mir gesagt; sie hatte sich das Akkordeon übergehängt und war zur Brücke gegangen. Und ich glaube, was sie beabsichtigte, war ein Schwur. Er war da, und es begann zu schneien. Er war da und hielt die Hände mit den Handflächen nach oben, er ließ den Schnee darauffallen und blies ihn dann weg.
An jenem Heiligabend ’44 hatte mein Vater zum ersten Mal Schnee gesehen. Der spät gekommen war, auch wenn er dann nicht mehr aufhörte, in großen Mengen zu fallen. Doch dieser erste unerwartete Schnee war fein, kristallen, Schnee aus plötzlichem Frost. Er sagte ihr, er habe sich erschrocken, denn während er dort wartete, hatte sich der Himmel in ein Halbdunkel verwandelt, ein merkwürdiges Halbdunkel, als wäre es von jemandem verbreitet worden, als hätte man um die Sonne herum eine Kiste mit Tränengas geöffnet. Und dann hatte dieses Zeug plötzlich begonnen herunterzufallen. Einfach so, als wäre nichts.
So setzten sie sich nicht ins Flussbett, sondern gingen herum, denn mein Vater musste noch lernen, wie man das auf dem Schnee tat. Sie lachten sehr darüber, wie unbegabt er dafür war, sie lachten darüber, wie dieser spitze Schnee einen Weg fand, sich überall hineinzusetzen, und darüber, wie sehr er kitzelte, wenn er die Haut berührte, diesen Moment, bevor er schmolz und zur fürchterlichen Plage wurde. Und erst am Schluss, als der Schnee dichter und schwerer wurde, überredete die Duse ihren Geliebten, ruhig zu sein und das Geschenk, das sie ihm machen wollte, anzunehmen. Sie spielte für ihn unter dem Dach des sogenannten Pascoli-Brunnens an der Ecke zwischen dem Weg, der zum Gittertor des Hauses des Dichters geht, und dem Pfad, der zum alten Teil des Friedhofs führt. Diesen Brunnen kenne ich gut: Dort habe ich als Kind gespielt, jahrelang bin ich zum Wasserholen dorthin gegangen, mit der Santarellina und dann allein, dort habe ich mich mit meinen Freunden getroffen, als ich anfing zu rauchen, aber ich bin nie mit einem Mädchen hingegangen. Es schien mir
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