Himmelspfade - Engel weisen uns den Weg
Gang macht mir Angst.«
»Aber du hast die Geister doch schon gesehen, Lorna, und du weißt, dass sie wunderschön sind. Du weißt, dass sie gut sind«, sagte Hosus.
»Aber ich spüre, dass etwas Schlimmes geschehen ist. Ich kann es nicht in Worte fassen, aber ich spüre es in meinem Herzen, und es bringt mich zum Weinen.«
Hosus sah mich traurig an. »Du wirst weinen müssen, denn nur durch deine Tränen können die Geister frei werden. Sie brauchen dich, und eines Tages werden sie mit dir kommen, aber du musst in den kleinen Gang hineingehen.«
Doch an diesem Tag ging ich nicht in den Gang hinein. Ich entgegnete Hosus: »Auf keinen Fall!« Dann drehte ich mich um und ging aus dem Wintergarten hinaus und über den großen Flur ins Esszimmer meiner Großmutter. Den Gang würdigte ich keines Blickes, geschweige denn, dass ich hineingegangen wäre. Ich kann manchmal ganz schön trotzig sein. Ich setzte mich auf den Stuhl an der linken Seite des Esszimmertischs. Meine Großmutter kam aus der Küche herein. Sie sagte kein Wort, sondern stellte einfach nur eine Tasse Tee, etwas frisches Brot und Marmelade vor mich hin und ließ mich dann allein.
Eines Tages, nachdem ich meiner Großmutter geholfen hatte, den Boden zu bohnern, erschien der Engel Michael. Er nahm mich bei der Hand und ging mit mir in den Wintergarten. Dort angekommen, forderte er mich auf, nach links zum Obstgarten hinauszusehen, und wieder veränderte sich alles – es war, als schaute ich auf einen großen Bildschirm. Ich wusste, dass ich im Wintergarten stand, neben mir der Engel Michael, der meine Hand hielt, aber Zeit und Ort veränderten sich völlig. Ich konnte eine Gruppe von Frauen sehen, die in einer hügeligen Gegend Brombeeren pflückten, und mitten unter ihnen war Marie. Sie war um die 16. Ein junger Mann kam über die Felder auf die Frauen zu. Er war groß, stattlich und gut gekleidet. Es war der Mann, den ich am Fenster gesehen hatte. Marie richtete sich auf und sah ihn geradewegs an, als könne sie ihre Augen nicht von ihm wenden. Strahlend lächelte er sie an, und sie errötete heftig. Ich konnte sehen und hören, wie die übrigen Mädchen sie hänselten. Eine andere junge Frau, die ihr so ähnlich sah, dass ich sie für ihre Schwester hielt, sagte zu ihr: »Hör lieber auf, so zu lächeln, bevor du ins Haus gehst, sonst merkt jemand noch was.« Dann hörten sie auf, Brombeeren zu pflücken, und Marie lief vor ihrer Schwester her und nach Hause. Als sie ins Haus kam, sagte ihre Mutter: »Deine Wangen sind sehr rot, Marie, du solltest nicht so herumtoben.« Aber sie machte sich deswegen offenbar keine weiteren Gedanken und wies Marie an: »Säubere die leckeren Brombeeren gründlich, dann können wir mit dem Marmeladekochen weitermachen.«
Wieder wechselte die Szene: Ich sah Marie in einem Lebensmittelgeschäft. Es war dunkel und staubig, und auf dem Boden standen eine große Holzkiste, Obststeigen und Säcke. Marie stand an der Theke und kaufte Lebensmittel ein. Da kam der junge Mann herein. Er lächelte Marie strahlend an. Es war ganz offenkundig, dass sie ihre Augen nicht voneinander lassen konnten. Dem Ladeninhaber war das wohl aufgefallen, denn er sagte zu Marie: »Sieh lieber zu, dass du schnell nach Hause kommst, junges Fräulein! Deine Mutter wartet auf den Zucker und die Butter.« Marie wurde rot und lief aus dem Geschäft. Das alles schien ihr sehr peinlich zu sein. Der junge Mann folgte ihr und holte sie in einer ruhigen Straße ein, die offenbar zum Haus ihrer Eltern führte. Im Gehen unterhielten sie sich. Sie wirkten sehr vertraut miteinander, und niemand sah sie.
In diesen Ferien stritt ich die meiste Zeit mit den Engeln. Ich sagte immer noch: »Nein, nein, nein, ich gehe nicht in den kleinen Gang! Es wird mir bestimmt wehtun, und ich bin noch zu klein dafür. Ihr hättet jemand Größeren bitten sollen. Fragt doch einen Erwachsenen!« – Ich bin mir bewusst darüber, dass ich noch nicht erklärt habe, warum ich einen Schmerz oder eine Verletztheit spürte. Damals verstand ich das selbst noch nicht.
Eines Tages erschien Michael, als ich gerade mit einem kleinen verletzten Falken spielte, den ich gerettet hatte. Der Vogel begleitete mich in diesem Sommer ständig. Michael ging mit mir und meinem Vogel durch den Garten und dann in die Küche meiner Großmutter. Sie war gerade zusammen mit meiner Mutter dabei, Brot zu backen, aber offenbar bemerkten sie mich nicht. Michael führte mich in den Wintergarten, in dem alle
Weitere Kostenlose Bücher