Himmelspfade - Engel weisen uns den Weg
wunderschön aus – genau wie ein Engel. Kann ich zu ihr gehen und mit ihr spielen?«
»Nein«, erwiderten die Engel. »Dieses Mal noch nicht!« Ich fragte mich, warum ich das wohl nicht durfte. Was war hier anders als sonst? Ich war völlig durcheinander und konnte es einfach nicht begreifen. Warum konnte ich nicht zu ihr und mit ihr spielen?
Da erschien Michael. »Komm her zu mir und setz dich neben mich«, sagte er, »dann erzähle ich dir etwas.« Wir saßen vor einem alten Wagenschuppen auf einem großen Stein, der einer Viehtränke ähnelte. Währenddessen flogen hinter uns die Schwalben ein und aus.
»Was denn?«, fragte ich. »Was willst du mir erzählen?«
»Hör mir gut zu, Lorna«, begann er. »Es ist eine sehr lange Geschichte, und ich kann dir jetzt nicht alles erzählen. Ich weiß, dass du die junge Frau dort oben sehen kannst. Sie ist kein Engel wie wir. Sie ist anders. Sie ist ein Geist, und bei ihr ist auch noch ein weiterer Geist. Du wirst ihnen helfen, aber das wird Zeit brauchen. Kannst du das verstehen, Lorna?«
Ich blickte zu Michael auf. In seiner Gegenwart fühlte ich mich ruhig und geborgen, daher sagte ich: »Ich glaube schon irgendwie.« Er sah zu mir herunter und lächelte. »Nun mach dir keine Gedanken mehr und geh einfach wieder spielen.«
Die Ferien vergingen nur langsam, und immer wenn ich im Haus meiner Großmutter war, mied ich den kleinen Gang, der vom Hauptflur im Erdgeschoss abzweigte. Dieser Gang war ganz anders als der Flur. Der Flur war breit und hatte einen gebohnerten dunklen Holzfußboden. An der Wand hingen Bilder und Zimmerpflanzen. Seine Türen waren riesig und hatten schöne Holzrahmen. Der kleine Gang hingegen war sehr schmal und dunkel, der Boden bestand aus Steinplatten, und die gemauerten Wände waren nicht gestrichen. Der Gang sah so lang und dunkel aus, dass ich kaum die Speisekammern entdecken konnte, die an seinem Ende lagen, wie man mir gesagt hatte. Obwohl die Engel es mir nicht verraten hatten, wusste ich, dass die schöne junge Frau sich am Ende dieses Ganges befand. Und ich wusste auch, dass der andere Geist, von dem Michael mir erzählt hatte, ein Mann war und sich ebenfalls dort aufhielt. Ich hatte Angst vor den beiden. Ich wusste, dass sie etwas von mir wollten, aber ich wusste nicht genau, was es war. Doch in jenen Ferien erfuhr ich nichts Weiteres über sie.
In dem Jahr, in dem ich neun wurde und meine dritten Sommerferien in Mountshannon verbrachte, erzählten mir die Engel mehr über die beiden schönen Geister. Einer meiner Lieblingsplätze in dem alten Haus war der sogenannte Wintergarten. Ich bin mir nicht sicher, ob wir ihn heute auch noch so bezeichnen würden. Es war ein kleiner Bereich mit einem großen Fenster am Ende eines Flurs. Er war immer sehr hell und stand voller Pflanzen und Blumen. Wenn ich dort war, kam manchmal Michael zu mir. Dann versammelten sich auch andere Engel um mich herum und zeigten mir etwas aus der Vergangenheit. An jenem Tag bat Michael mich, aus dem Fenster zu schauen. Ich tat es und sah, wie die Landschaft sich veränderte. Es war, als hätte Michael einen Vorhang zurückgezogen. Sie zeigten mir die schöne junge Maid. Das ist natürlich ein recht seltsames Wort für eine Neunjährige, aber das Wort »Maid« kam mir in den Sinn, als die Engel über sie sprachen – damals wusste ich noch nicht einmal, was es bedeutete. Ich drehte mich um und sagte zu Michael: »Du hast gesagt, sie war eine schöne junge Frau, aber ich würde eher sagen, sie war eine Maid. Bedeutet Maid dasselbe wie junge Frau?« Michael nickte.
Ich schaute wieder zu ihr und sah sie über die Wiesen gehen. Michael sagte mir, sie heiße Marie. Sie brachte gerade ein paar Kühe nach Hause und trug einen Stock – keinen kleinen Ast, sondern einen soliden, schweren Stock. Die Engel sagten mir, ich solle genau hinsehen und versuchen, mir alles zu merken. Daher prägte ich mir die Szene genau ein. Ich erinnere mich sogar noch an die Einzelheiten ihres Kleides. Es war weiß mit kleinen, braun-orangefarbenen Blüten. An der linken Seite hatte es eine Tasche, und der Kragen wirkte irgendwie eckig. Ihr langes und sehr glattes Haar wehte im Wind. Sie hatte eine sehr helle Haut und ein blasses Gesicht. Ihre Augen waren blau. Sie hatte eine leichte Statur, und ihre Beine wirkten dünn. Sie trug flache Schuhe. Es waren keine Stiefel, denn ich erinnere mich, dass ich die Engel gefragt habe, warum sie an einem nassen Tag auf der Wiese keine Stiefel trug. Sie
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