Himmelspfade - Engel weisen uns den Weg
Pflanzen blühten. Sicher würde ich gleich um etwas gebeten werden.
»Kann ich nicht einfach mit dem Vogel hierbleiben, ihn streicheln und die Sonne genießen?«, bat ich Michael.
»Nein!«, erwiderte er knapp.
Ich sah ihn an. »Nein, ich gehe nicht in den Gang!«, sagte ich trotzig.
»Ich möchte gar nicht, dass du in den Gang gehst«, antwortete er. »Ich möchte einfach nur mit dir im Haus herumgehen.« Michaels Augen waren so strahlend, es war, als könnte man kilometerweit in sie hineinschauen, als ginge man eine lange, lange Straße entlang, als schritte man durch die Zeit. Sein Gesicht leuchtete immer sehr hell. Er nahm meine Hand, dann ließ er sie wieder los und legte mir den Arm um die Schulter. Engel können sich so menschlich machen, dass ich als Kind oft vergaß, dass es Engel waren. Sie waren meine besten Freunde.
Michael nahm mich nun wieder bei der Hand. Wir gingen den Hauptflur entlang und rechts in ein Zimmer hinein, in dem ich erst ein einziges Mal ganz kurz gewesen war. Michael stemmte die beiden großen, schweren Türen auf. Erst jetzt wird mir bewusst, wie oft Michael und die anderen Engel Türen für mich öffnen und andere ähnliche Dinge tun. Jeder, der es gesehen hätte, wäre überzeugt gewesen, dass die Türen von selbst aufgegangen waren.
Das Zimmer war groß und hatte einen Kamin. Es gab nur wenige Möbel darin, aber auf der gegenüberliegenden Seite beim Kamin standen wuchtige, altmodische Sessel. Durch das große Fenster sah ich Weinranken. Das Zimmer war erfüllt von Glück und Freude, aber auch Traurigkeit war darin zu spüren. Ich konnte mir keinen rechten Reim darauf machen und schaute zu Michael auf, der mich fragte: »Spürst du es?«
»Ja«, antwortete ich.
Michael fuhr fort: »Wir müssen dir hin und wieder ein wenig Unterricht erteilen, denn es gibt so Vieles, was du lernen musst, und du hast so wenig Zeit dazu.« Er schob mich etwas nach vorne. »Geh zum Kamin hinüber und sag mir, was du siehst und fühlst.«
Als ich auf die beiden Sessel am Kamin zuging, sah ich plötzlich einen alten Mann und eine alte Frau darin sitzen. Sie trugen schwere, elegant aussehende Kleidung. Sie wirkten glücklich. Ich drehte mich zu Michael um und fragte ihn: »Sehen sie mich nicht?«
»Nein, in Wirklichkeit sind sie im Himmel«, erklärte er mir. »Aber du sollst sie sehen. Kannst du mir noch etwas über sie sagen?«
Ich drehte mich wieder um und betrachtete die alte Frau genauer. Sie war wahrscheinlich noch gar nicht so alt, der Eindruck entstand eher dadurch, wie sie gekleidet war. »Sie hat graubraune, glatte Haare«, sagte ich. »Sie trägt sie hochgesteckt, aber nicht in einem Knoten, sondern eingedreht, und sie hat eine Nadel im Haar und keine Haarklammern, so wie wir sie verwenden. Es ist eine lange Nadel, und es sieht so aus, als sei sie zur Hälfte mit Diamanten besetzt.«
»Das ist richtig, und was siehst du noch?«, hakte Michael nach.
Ich sah mir ihr Gesicht noch genauer an. »Jetzt weiß ich es«, sagte ich. »Das ist seine Mutter, nicht wahr?«
Michael nickte lächelnd. Die Frau wandte sich in meine Richtung, und einen Augenblick lang dachte ich, sie könne mich sehen, aber Michael erklärte mir: »Sie darf dich nicht sehen.«
Da rief sie einen Namen, »Edward«, und ein kleiner Junge von höchstens fünf Jahren kam zu ihr gelaufen. Er hatte ein gebräuntes Gesicht und kam mir etwas pummelig vor, nicht so wie er ausgesehen hatte, als ich ihn im Fenster gesehen hatte. Nun drehte ich mich um und betrachtete den alten Mann. Auch er war eigentlich nicht alt, er wirkte nur irgendwie so. Er sah seinem kleinen Sohn zu, der auf dem Boden mit einer kleinen Kutsche spielte. Ich konnte es damals noch nicht verstehen, aber ich verspürte ein Gefühl der Einsamkeit. Und plötzlich war mir klar, dass er aus irgendwelchen Gründen wusste, dass ihm dieser süße kleine Sohn eines Tages weggenommen und ihm schrecklich fehlen würde.
Edwards Vater saß sehr aufrecht und sehr streng in seinem Sessel und beobachtete seinen spielenden Sohn. Er war offenbar ein Mann von großer Autorität. Er zeigte seine Liebe und Zuneigung nicht und verhielt sich damit genau so, wie es von Vätern damals erwartet wurde. Doch trotz seines Verhaltens glaube ich, dass sein kleiner Sohn wusste, wie sehr er ihn liebte, denn er wandte sich ihm zu und lächelte seinen Vater an. Ich blickte verwundert zu Michael. »Die Sessel sind ganz anders als die Möbel, die jetzt hier stehen«, bemerkte ich, »und auch
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