Himmelsschwingen
versucht hatte, ihre Gedanken zu ergründen, veranlasste Samjiel schließlich, den Blick abzuwenden.
Galina beobachtete den lautlosen Austausch zwischen ihnen und sah dabei von einem zum anderen. »Wer, hast du gesagt, seid ihr?«
Eilig sagte Iris: »Ich gehöre zu den Vigilien , und er ist ein Freund.«
»Sag deinem Freund , er kann den Patienten jetzt loslassen.«
Nichts geschah.
»Sam?«
Er zuckte mit der Schulter, nahm die Schere an sich und trat einen Schritt zurück. »Wie du willst.«
Sofort fing der Junge wieder an, um sich zu schlagen, als wären tausend Dämonen hinter ihm her, und Iris war froh, dass man in der Suppenküche nichts davon mitbekam. Ga lina versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. Nach einem Schlag auf den Arm, der äußerst schmerzhaft gewesen sein musste, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollte, gab sie auf. »Bitte …!«
Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Samjiel hob eine Augenbraue, und im Nu lag der Widerspenstige regungs los auf der Liege. Er blutete stark. Iris fürchtete bereits, dass er nicht mehr zu retten wäre, doch Galina wirkte unbeirrt zuversichtlich. Sie streckte beide Hände aus, senk te die Augenlider und hob an, eine leise Melodie zu summen. Es gab unterschiedliche Wege, einen Kranken wiederherzustellen, eines aber war sofort klar: Galina muss te einst zu den besonders begnadeten Heilerinnen des Elysiums gehört haben. Es dauerte nicht lange, und von dem tiefen Stich, der auch innere Organe des Opfers verletzt hatte, war nur eine harmlose Fleischwunde zurückgeblieben.
Die Heilerin schwankte, und Iris führte sie zu einem Stuhl. »Das war wunderbar!«, sagte sie beeindruckt. »Warum arbeitest du nicht in einem Krankenhaus? Mit deinem Talent könntest du eine glänzende Karriere machen und müsstest nicht in einem ärmlichen Hinterzimmer wie diesem sitzen.«
»Hier werde ich mehr gebraucht. Außer mir gibt es niemanden, der sich für diese Menschen interessiert.«
Während Galina ihren Patienten verband, von dem nur ein leises Wimmern zu hören war, versuchte sich Iris nützlich zu machen und wischte so gut es ging das Blut vom Boden auf.
»Sam, ich glaube, du kannst seinen Freunden jetzt erlauben, hereinzukommen.«
Keine Antwort.
Iris sah auf und bemerkte aus dem Augenwinkel gerade noch eine Bewegung. Als sie genauer hinsah, war Samjiel bereits fort.
»O verdammt!« Schnell sprang sie auf. »Galina, ich danke dir, das war sehr lehrreich für meinen Freund … für uns beide natürlich«, korrigierte sie sich und hüllte sich eilig in den Schleier, den zu durchschauen den meisten Geschöpfen in dieser Welt nicht gegeben war.
Oben auf dem Dachfirst setzte sie sich und tastete nach der silbrig weißen Feder, strich gedankenverloren über die glatte Fläche, spitzte einem Impuls folgend die Lippen und blies sanft darüber, bis sich die Daunen am Kiel aufpluster ten. Warum ist er so schnell verschwunden? Unentschlossen blickte Iris auf die Straße hinab, dabei fielen ihr die Blut spritzer auf ihren Schuhen auf. Als sie genauer hinsah, wur de deutlich, dass sie sich in diesem Zustand lieber nicht in der Öffentlichkeit zeigen sollte. »Ich finde ihn wieder!«, versprach sie dem Wind, entfaltete die Flügel und ließ sich von ihm in ihr vorübergehendes Zuhause tragen.
Der Limousine sah man an, dass sie nicht hierhergehörte. Das kalte Blau des Scheinwerferlichts und das lautlose Dahingleiten verrieten den Außenseiter. Geschickt wich sie den tiefen Schlaglöchern aus und bewegte sich dennoch schnell genug, als gehörte die Straße allein ihrem Fahrer, der hinter den getönten Scheiben kaum auszumachen war, sodass ein flüchtiger Beobachter den Eindruck gewinnen konnte, der Wagen, der jetzt lautlos vor der Brache hielt, würde von Geisterhand gesteuert.
Ob hier eine dieser Wohnstätten längst verschwundener Bürgerlichkeit gestanden hatte, die dem Quartier ihr unverwechselbares Gesicht gaben, konnte man nicht sagen. Es war jedoch anzunehmen, betrachtete man die von Buschwerk überwucherten Mauerreste, die darauf schließen ließen, dass drei oder vier Häuser den Träumen eines neuen Bauherren hatten weichen müssen, ohne dass es Anzeichen dafür gab, ob oder wann dieser seine Pläne in die Tat umzusetzen gedachte. Hinter einem Hügel aus Ziegelsteinen, gewissermaßen in zweiter Reihe, duckte sich ein Haus, von dem man denken konnte, es sei der Abrissbirne nur deshalb entgangen, weil es so klein war. Ein Häuschen also, nicht viel mehr als eine
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