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Himmelsschwingen

Himmelsschwingen

Titel: Himmelsschwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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Verstehst du denn nicht …?« In seinen Augen, die eben noch bezaubernd auf sie gewirkt hatten, lag nun eine Kälte, die sie erschaudern ließ. Das waren die Augen eines Scharfrichters.
    Etwas von ihrem Entsetzen musste er trotz seiner unnahbaren Haltung gespürt haben, denn mit einem Ruck öffneten sich seine Schwingen, und er wandte sich von ihr ab. Offensichtlich hielt er ihren Ausflug für beendet.
    Aber für sie hatte er gerade erst begonnen, Samjiel durf te jetzt nicht einfach verschwinden. »Gilt dein Wort noch?«, rief sie ihm deshalb schärfer als geplant nach.
    Ganz langsam drehte er sich zu ihr um. Bisher war ihr nicht aufgefallen, welch Furcht einflößende Macht er ausstrahlen konnte, die sogar eine erfahrene Kriegerin nicht unbeeindruckt ließ. Das Engelsfeuer verlieh ihm eine außergewöhnliche Aura, sein Körper, in zahllosen tödlichen Kämpfen gestählt, wirkte vollkommener, als sie es jemals zuvor bei einem anderen Krieger gesehen hatte. Kein Wunder, dass sich seine Gegner vor ihm ebenso fürchteten wie vor dem Erzengel, dem er diente. Seine Schwin gen schimmerten wie heller Stahl, während Samjiel sie behutsam, geradezu mit gewissenhafter Sorgfalt, wieder schloss, als bräuchte er diese Zeit, um sich zu sammeln.
    »Wächterin!«, sagte er drohend, hielt kurz inne und holte tief Luft, um mit ruhigerer Stimme fortzufahren: »Wir begegnen uns zum ersten Mal, und ich weiß nicht, was dir deine Kumpane über mich erzählt haben, deshalb verzeihe ich dir. Aber zweifle niemals, hörst du, niemals wieder an meinem Wort!«
    Iris mochte es ebenso wenig wie jeder andere, wenn jemand in diesem Ton mit ihr sprach, aber merkwürdigerweise glaubte sie nicht, dass es seine Absicht war, sie einzuschüchtern. Die Empörung war echt, darauf hätte sie wetten mögen. Um ihn nicht weiter zu reizen, unterdrückte sie einen Seufzer. Wahrscheinlich verbrachte sie einfach zu viel Zeit in der modernen Welt, in der man Begriffe wie Respekt und Ehre inflationär gebrauchte, bis sie ihre wahre Bedeutung verloren. Manchmal vergaß man da, wie viel diese Tugenden einem Engel seiner Herkunft bedeuteten. Auch sie hätte es nicht spaßig gefunden, hätte jemand ihre Ehrlichkeit angezweifelt. Und doch war sie in einer Mission unterwegs, die man getrost als Gratwanderung bezeichnen durfte. »Es war vermutlich nicht ganz fair von mir, dich einfach hierherzuschleppen.«
    Schweigend wartete er, dass sie weitersprach, hatte aber etwas von seiner einschüchternden Haltung aufgegeben.
    Deshalb fügte sie hinzu: »Die Sorge um ein unschuldiges Leben hat meine Gedanken beherrscht. Ich bitte um Verzeihung.«
    »Also meinetwegen.« Der grimmige Ausdruck war aus seinem Gesicht verschwunden. »Was wolltest du mir zeigen?«
    Erleichtert wies sie zum Laden hinüber. Von dem gefallenen Engel sahen sie nichts mehr, und auch die Mutter mit ihrem unglücklichen Sohn war fort.
    Iris überquerte die Straße, Samjiel folgte ihr. Noch immer vor den Augen der Sterblichen verborgen, betraten sie gemeinsam das Geschäft, das viel geräumiger war, als es von außen ausgesehen hatte, und sich als eine Art Lokal herausstellte. Suppenküche stand in großen kyrillischen Buchstaben an der Wand. Ein Witzbold hatte all you can eat daruntergekritzelt. Daneben hing ein Fernseher, und hinter dem Ladentisch sah man die Küche, aus der ein appetitlicher Duft herüberwehte. Die Frau, die sich eben noch für das Kind eingesetzt hatte, schnitt mit einem großen Messer in bemerkenswerter Geschwindig keit Porree, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes ge tan. Den kleinen Jungen hatte sie bei sich, er saß auf einem Schemel, eine Karotte in der Hand, und sah sie an, als wäre sie eine Heilige.
    Wer weiß, vielleicht wird sie das auch eines Tages , dachte Iris.
    Von der Mutter des Jungen fehlte jede Spur. Nicht weit vom Tresen saß dicht über ein Buch gebeugt ein Greis, neben sich einen leeren Becher.
    Und dann kam die schlanke Frau, deren Alter man beim besten Willen nicht hätte benennen können, mit einem Krug in der Hand um die Ecke. »Du musst viel trinken«, sagte sie freundlich, während sie ihm nachschenkte. »Wie geht es deinem Fuß?«
    Der Mann klappte sein Buch zu sah zu ihr hinauf. »Galina, ich schwöre, in den letzten Jahren bist du keinen Tag älter geworden.«
    Ihr war anzusehen, dass ihr das Thema nicht behagte. »Komm mit, ich möchte mir die Wunde ansehen.«
    »Nein!« Panisch versuchte er aufzustehen. »Ich gehe in kein Lazarett nicht, niemals

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