Himmelsspitz
zugesandt,
Was sich eigen hat das Herz ernannt,
Nicht im Seufzer darf's der Brust entwehen!
Für Agnes begann am Tag des Schützenfests ihr drittes, ihr härtestes Leben. Ein Leben, an dem Vinzenz nicht mehr teilnahm. Und Urban, der unglückselige Urban, der stand kurz davor, seine Seele endgültig an den Leibhaftigen zu verlieren.
Die Sonne hatte sich bereits auf die obersten Berggipfel verzogen. Bald würde sie untergehen. Dem Kind war übel. Mehrere Male musste Horst anhalten, damit es sich übergeben konnte.
»Die vielen Kurven, hoffentlich sind wir bald da, ist ja eine schreckliche Straße, wie am Ende der Welt«, sagte er dann und reichte Lea eines seiner Taschentücher, in das seine Initialen gestickt waren: ein schnörkeliges HT für Horst Tietze.
Sie durchfuhren einige kleine Ortschaften, bis das Tal enger und die Straße noch kurviger und steiler wurde. Links und rechts von ihnen fielen riesige Felswände in die Tiefe, überall sah man Reste von Muren. Sie hatten große Steine in die reißende Ache geschleudert, die neben der Straße verlief. Das graue Wasser floss schäumend und tosend um die mächtigen Felsbrocken und ließ manchmal ein Autoskelett auftauchen.
»Ah, da ist wieder einer bös von der Straße abgekommen!«, kommentierte Horst die rostigen Zeugen tragischer Unfälle. »Die können hier nicht Auto fahren! Wie ich schon sagte: das Ende der Welt.«
Er war der Einzige, der sprach, immer die gleichen Sätze des Erstaunens und der Missbilligung, wie eine schlechte Schallplatte, die hing:
»Das Ende der Welt, das Ende der Welt, das Ende der Welt!«
Irgendwann öffneten sich die Schluchten, das Licht wurde heller, und der lärmende Fluss neben ihnen verschwand in der Tiefe. Die Straße bog um einen großen Felsen, hinter dem sich ein großartiges Tal mit bunten Wiesen, kleinen Heustadeln und vereinzelten Höfen ausbreitete.
»Kann ja nicht mehr weit sein, hier bahnt sich das Ende an«, bemerkte Horst zufrieden, als er sah, dass das Tal von einem zerklüfteten Höhenzug eingesäumt war.
»Bald geht es in die Höh, holldriö. So sagt man doch hier, nicht wahr?«, feixte er. »Rauf auf den Berg, rein in die Sommerfrische, hoffentlich ist das Hotel auch wirklich ordentlich!« Isabel erwiderte nichts.
»So stumm? Ist dir etwa auch schlecht?«
»Nein, es geht mir gut, Horst, es geht mir wirklich gut.«
Ihr Blick war geradeaus gerichtet auf das Bergrelief vor ihr, aus dem sich wie ein versteinerter König mit einer zackigen Steinkrone auf dem Haupt ein mächtiger Berg erhob.
Der Himmelsspitz.
Wie vertraut ihr sein Anblick war. Als sie ihn zum ersten Mal sah, hatte sie sich gerade auf dem Gipfel des größten Glücks befunden:
Auf den Straßen und Plätzen herrschte dichtes Gedrängel und fröhliche Ausgelassenheit. Es war der erste Samstag im Mai, der Hamburger Hafen feierte Geburtstag. Isabel zwängte sich durch die Menschenmassen, vorbei an Schieß- und Essensbuden und Flohmarktständen.
Schließlich sah sie ihn am Kai, wie er an einen Laternenpfosten gelehnt, mit leicht gebeugter Körperhaltung auf sie wartete. Er trug seine Lederjacke, Jeans und eine Sonnenbrille. So geheimnisvoll, unnahbar und attraktiv.
Er lächelte, als er Isabel sah.
»Sie sehen schön aus«, begrüßte er sie. »Ein schönes Kleid, lustig mit den roten Punkten.«
»Es war das Nächstbeste, das ich fand«, log Isabel. »Ich hatte wenig Zeit, denn ich musste noch ein paar Besorgungen machen.«
Er nahm die Brille ab. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«
Sie räusperte sich. »Tut mir leid, das mit dem Tablett vorgestern. Es ist mir einfach aus der Hand gerutscht. Ich weiß auch nicht, was mit mir los war.«
»Stünden wir sonst hier?« Er lachte. »Heute ist ein besonderer Tag, all diese prächtigen Schiffe.«
»Ja«, erwiderte sie, »dieser Tag ist wirklich besonders.«
Dann sprachen sie lange Zeit nichts mehr. Schweigend beobachteten sie das Spektakel, das sich ihnen auf der Elbe bot, die Einlaufparade der imposanten Windjammer. Signalhörner ertönten, und die Menschen jubelten, als die Sedov, das größte Segelschulschiff der Welt, mit geblähten Segeln in den Hafen fuhr, gefolgt von dem gigantischen Dreimaster Amphitrie. Und während die Aufmerksamkeit aller Menschen um sie herum auf die großartige Darbietung gerichtet war, befand sich Isabel so stark im Bann des Mannes an ihrer Seite, dass sie jede seiner zufälligen Berührungen als Liebkosung empfand und die Augen schloss,
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