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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Tramitz
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seine Schulter, und gemeinsam setzten sie den Reim fort.
    »Ich weiß nicht mehr, wer bist dann du.
    Ich weiß nicht mehr, wer bin dann ich.«
     
    Stille war im Raum. Das Feuer knisterte im Ofen, draußen fing es an zu regnen. Tropfen klopften an die Scheibe.
    »Fertl, ich habe eine Bitte.« Sie ging zum Regal und nahm ein Jesuskind in die Hand. »Du wirst doch für ihn eine Krippe schnitzen. Er kann doch nicht auf dem harten Boden liegen. Fertl«, sie atmete tief durch, »ich bitte dich, schreinere für mich auch eine Krippe. Eine Wiege mit einem Himmelsdach.«
    Seine Schnitzbewegungen hielten inne. Nach einer Pause antwortete er.
    »Ja, Agnes, eine Wiege mit einem Himmelsdach.«
    »Vergelt’s Gott, Fertl«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
    Als sie die Tür öffnete, sagte er:
    »Agnes. Ich hab euch beide g’sehen. Ich habe euch beobachtet, als ihr euch im Heu geliebt habt. Agnes, von wem ist das Kind?«
    Ohne sich umzudrehen, antwortete sie: »Ich wusste es. Ich wollt’s dir immer sagen. Die Worte, die du mir zur Hochzeit g’schenkt hast.« Sie öffnete das Medaillon, das an ihrem Hals hing und zeigte ihm den kleinen Zettel. »Ich trag sie immer bei mir.«
    Fertl blickte aus dem Fenster und flüsterte:
     
    O große Sehnsucht, vergeblich Hoffen,
    Nun schweigt das Herz in Traurigkeit.
    Weh mir, kein Weg ist offen
    Ach wie war der ersten Liebe Zeit.
     
    »Fertl, die Sehnsucht quält und kein Hoffen mehr. Der ersten Liebe Zeit ist Vergessenheit.«
    Dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich. Fertl sah, wie sie langsam durch den Regen ging, hoch zum Kraxnerhof, wo bald alles seinen finsteren Lauf nehmen würde.
     
    Einige Monate später, Urban und Vinzenz kehrten gerade von der Waldarbeit zurück, fanden sie Agnes in der Stube auf dem Boden, inmitten von Blut und Schleim. Sie war, so wie ihre Mutter auch, während der Geburt ohnmächtig geworden. Das Kind lag schreiend zwischen ihren Beinen. Eine schwarze Katze schnupperte am Blut, das an Agnes’ weißen Beinen bereits zu gerinnen begonnen hatte. Vinzenz blieb wie angewurzelt am Türrahmen stehen, bis ihn Urban anherrschte: »Schau net so deppert, los, schick dich und hol die Maria.« Und während dieser rüber zum Stall stürmte, betrachtete der Kraxner seine Tochter, wie sie dalag, den Rock bis zum Bauch hochgezogen, mit zerrissener, blutdurchtränkter Unterwäsche. Ruhig und gelassen zückte er sein Brotzeitmesser und durchtrennte die Nabelschnur.
    Er hob das Neugeborene hoch.
    »Du bist zu früh kemma, Bub!«, sagte er mit eisigem Ton. Dann betrachtete er seinen Enkel von allen Seiten. »Ich werd dich lehren, ein Kraxnerbauer zu sein. Deinen windigen Vater, den prügle ich dir aus dem Leib, das versprech ich dir.«
    Dann wickelte er das Kind in eine Decke und legte es auf die nackte Bank hinter den Ofen.
     
    Das Anwesen des Urban Kraxner war nicht das letzte im Weiler, auch wenn es auf den ersten Blick so zu sein schien, weil sich dem Auge hinter dessen Hof nur noch Wiesen und Wälder boten.
    Der Pfad aber setzte sich fort und verschwand hinter einem Felsvorsprung. Er stieg nochmals sanft an und führte über den tosenden Wasserfall des Gaisbachs. Hinter der Brücke an der Stelle, an der der große Findling lag, gabelte sich der Weg. Geradeaus steuerte er über die Bergmähder in den Grantenwald, hoch zu den Fuchsbichler Almen. Links führte er, den wilden Bach entlang, steil durch einen Lärchenwald weit in die Höhe, Richtung Gipfel. Es war ein schwer begehbarer Pfad, auf dem man irgendwann zu einer gefährlich abschüssigen Felswand gelangte. Dort hatte man den Pfad in den Stein gehauen, und weil er gar zu schmal war, war er mit Brettern verbreitert worden. Bei einer Felseinbuchtung führte er über eine wackelige Hängebrücke. Von dort aus erreichte man ein abschüssiges Gesteinsfeld. Hier bestand der Pfad nur noch aus Brettern, die mit Pfählen im Geröll befestigt und teilweise eingebrochen waren, denn an dieser Stelle gingen immer wieder große Muren ab.
    Den Pfad zum Tremplerhof nutzten seit Langem nur noch die Rehe, Hirsche und Füchse. Niemand im Ort konnte sagen, wann hier das letzte Mal ein Mensch war. Irgendwann verlor sich der Weg im wilden Gestrüpp.
    Dort, wo der Pfad endete, betrat man die Heimat der Stille.
    Man konnte sie spüren, wie einen Hauch.
    Stille, in der man nur das leise Flüstern der Natur hörte. Die Tritte der Rehe, das Klopfen der Hasenläufe, das Schnüren der Füchse, das Fiepen der Mäuse, ja, sogar das

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