Himmelsspitz
während die prächtigen Schiffe an ihr vorbeizogen.
Nach dem Spektakel schlenderten sie hinüber zum Rummelplatz an der Alster, aßen Zuckerwatte und gebrannte Mandeln, fuhren mit der Geisterbahn und flogen mit dem Kettenkarussell durch die Lüfte, bis ihnen schwindelig wurde.
Irgendwann ergriff er ihre Hand. »Es sind so viele Menschen hier«, sagte er. »Lassen Sie uns dorthin gehen, wo es ruhiger ist.« Er führte sie zum Riesenrad. Als sie in die Gondel stiegen, klang aus den Musikboxen Lale Andersen.
Immer wieder, immer wieder klang vom Karussell unser Lieblingslied herüber, und die Nacht war hell. Immer wieder, immer wieder traf sich unser Blick, doch ich wagte nicht zu fragen:
Kommst du zurück?
»Ein trauriges Lied«, sagte Isabel. Er nickte schweigend.
Das Rad begann sich zu drehen. »Wissen Sie, die Welt weit oben ist eine sonderliche«, sagte er zu Isabel, als ihre Gondel den höchsten Punkt erreicht hatte und ein paar Minuten stillstand. »Auf jedem Meter des Weges in die Höhe rückt alles in die Ferne, und die Zeit verliert an Geschwindigkeit. Alles da drunten wird gemächlicher, langsamer, und je größer die Entfernung ist, desto mehr scheint die Zeit stillzustehen. Der Weg nach oben führt in die Stille. Und in die Einsamkeit.«
»Ich kenne das nicht«, antwortete Isabel. »Ich kenne sie nicht, die Höhe. Mein Leben verlief bislang auf flachen Bahnen. Mein einziger Ausflug in die Höhe führte auf den Michel.«
»Keine Höhen und somit auch keine Tiefen?«, fragte er lächelnd.
»Tiefen einige. Und Höhen …?« Sie zögerte einen Moment. »Höhen, ich glaube, heute erlebe ich sie«, sagte sie leise.
Er sah sie nachdenklich an. Die Gondel setzte sich in Bewegung, brachte sie wieder hinunter ins wilde Treiben und von dort aus wieder in die Höhe. Mit jedem Meter kamen und gingen Lale Andersens Klagen, und als die beiden ausstiegen, sang sie:
Sie liebte ihn, sie liebte ihn im ersten Augenblick. Sein Bild im Herzen hofft sie nun, er käm’ zu ihr zurück. Ein bisschen Sehnsucht in den Augen, ein kleines Lächeln im Gesicht, so steht sie Nacht für Nacht am Hafen, und wer sie sieht, vergisst sie nicht.
Langsam versank die Sonne im Wasser und tauchte den Hafen mit seinen prachtvollen Schiffen in glutrotes Licht. Als sie verschwunden war, stiegen pfeifend und krachend Raketen gen Himmel. In der Höhe platzten sie und entließen Tausende von Sternen, die sich, als würden sie von unsichtbarer Himmelshand gelenkt, zu glitzernden Springbrunnen und Blumensträußen formten, dann auseinander tanzten, bis sie im Rauch verpufften.
Es tat einen dumpfen Knall. Horst trat so stark auf die Bremse, dass Isabel mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe stieß. Lea flog gegen den Vordersitz. Horst fluchte.
»Darf doch nicht wahr sein.« Er hielt an und stieg aus. »Sieh sich das einer mal an!« Er fuhr mit der Hand über den Kotflügel. »Da hat der Lack böse was mitbekommen!«, schimpfte er. »Isabel, willst du nicht kommen und dir den Schlamassel ansehen? Der neue Wagen, das darf doch nicht wahr sein!« Während Isabel, von dem Schlag benommen, ihre Sinne noch sortierte, war Lea ausgestiegen. Langsam ging sie zur Vorderseite des Wagens. Isabel sah, wie ihre Tochter eines von Horsts Taschentüchern aus der Hosentasche zog und sich bückte.
»Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«, brüllte Horst.
»Aber er stirbt, wenn wir ihn nicht verbinden«, sagte das Mädchen.
Der Aufprall hatte den Hund nicht ganz getötet. Die Halsschlagader pumpte noch das Blut aus der Wunde, auf der das Taschentuch lag und sich vollsog. Das weiße Fell färbte sich allmählich rot. Die Lider zuckten über den todesmatten Augen. Ein Bein war gebrochen, der gesplitterte Knochen hatte Haut und Fell durchbohrt. Die Bauchdecke war an einer Stelle geplatzt, durch die Öffnung quoll das bleiche Weiß der Därme. Lea kniete sich neben das sterbende Tier und bettete den blutenden Kopf in ihren Schoß.
»Nicht sterben«, flüsterte sie. Unter dem dichten Fell fand sie einen Lederstrick, an dem ein kleiner Anhänger baumelte. Sie nahm ihn ab, um zu entziffern, was dort eingraviert war. »Da steht was, aber man kann es nicht mehr erkennen!«, rief sie aufgeregt. Isabel wurde schwarz vor Augen.
»Sind alle wahnsinnig geworden?«, donnerte Horst. »Ist doch nur ein Straßenköter.« Er packte das sterbende Tier an den Hinterbeinen und zog es an den Straßenrand. »Einsteigen, wir müssen uns sputen,
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