Himmelsspitz
damit wir heute noch ankommen.«
Isabel schaute zu dem Bauernhof, der sich auf der anderen Straßenseite befand. »Horst, wir müssen den Besitzer informieren, zumindest das. Wir müssen uns entschuldigen.«
»Wie? Wofür?«, schrie er. »Entschuldigen Sie, dass Ihr Hund in meinen Wagen gelaufen ist? Etwa so? Oder noch besser: Was bin ich Ihnen schuldig für den Lack, der im Fell Ihres Hundes klebt! Denkst du an so eine Entschuldigung?«
Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Mal die Realität sehen, meine Lieben.« Er zog Lea am Ärmel. »Los, Lea, einsteigen. Bitte!«
Das Kind bewegte sich nicht, und als Horst versuchte, sie in den Wagen zu zerren, wehrte sie sich mit aller Kraft, zappelte heulend, und ehe Isabel einschreiten konnte, hatte Lea Horst in den Finger gebissen. Ein heftiger Streit entbrannte zwischen allen. Um dem entstandenen Tumult zu entkommen, hielt sich Lea irgendwann die Ohren zu, Isabel begann zu weinen, und Horst zündete sich eine Zigarette an.
»Der arme Hund, jetzt hat’s ihn doch erwischt«, sagte auf einmal eine leise Stimme neben ihnen.
Sie hatten bei all dem Gebrüll und Geheule den alten Mann mit seinem Schubkarren nicht kommen hören. »Streunt schon seit Ewigkeit hier rum, keiner weiß, woher er kimmt. Er ist ein ganz a Wilder, lässt sich von keinem anfassen. Wir dern ihn Krüppelohr heißen, seht’s, der hat keine Ohren mehr, beide ab.«
Während er das Tier in die Karre legte, murmelte er:
»Wenigstens ein schneller Tod. Schön, so ein schneller Tod, der ist ein Geschenk Gottes, so ein schneller Tod.«
Ohne die deutschen Touristen eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand er so unmittelbar, wie er gekommen war.
Horst ließ den Motor an. »Was ist das für eine Gegend, in der man sich über einen schnellen Tod freut?«, fragte er.
Inzwischen hatte die Sonne die Berggipfel verlassen. Es wurde langsam dunkel. Bald würde die Nacht kommen, noch hatten sie ihr Ziel nicht erreicht, auch wenn der Himmelsspitz vor ihnen mit jedem Kilometer, den sie fuhren, größer und mächtiger wurde. Lea sprach nach dem Vorfall kein Wort mehr, und Isabel beobachtete Horst, wie sein Kiefer angestrengt mahlte, wie Wut und Ärger seine Ader an der Schläfe pochen ließen. Und dieser Anblick trieb ihre Gedanken in die sanfte, zärtliche Geborgenheit jener Nacht am Hafen, in der sie zum ersten Mal jenen Berg gesehen hatte, den die untergehende Sonne vor ihr nun allmählich ins Dämmerlicht tauchte.
Fertl Granbichler saß gerade in seiner Schreinerei, in der Hand hielt er einen zarten Jesusknaben, dessen Heiligenschein er feilte, als es an der Tür klopfte und Agnes hereintrat.
»Servus, Fertl«, grüßte sie. »Servus, Agnes«, antwortete Fertl, ohne aufzublicken.
Sie sah sich in der Werkstatt um. »Schön. Sie g’fallen mir«, sagte sie und zeigte auf die Heilande, die behutsam nebeneinander gereiht im Regal lagen. »Ja, Fertl, bald ist Weihnachten, nimmer lang. Stört’s dich, wenn ich dir ein wenig zuschau?« Sie setzte sich rittlings auf einen umgedrehten Ruckkorb. Fertl legte das Jesuskind neben die anderen.
»Willst einen Tee?« Er stand auf, nahm die Kanne vom heißen Ofen und schenkte ihr ein Haferl ein.
»Dank dir«, sagte sie. »Ich habe ein bisserl Zeit, Vinzenz ist im Tal, Zucker und Mehl kaufen.«
»So so.«
»Was meinst, du hast mir so lange nichts mehr vorg’lesen.«
»Keine Zeit. Kannst doch inzwischen selbst lesen«, erwiderte er, ohne sie anzusehen. Er nahm ein Stück Holz und begutachtete es von allen Seiten.
»Fertl, bitte ein Gedicht, so wie früher immer.«
»Früher ist nicht mehr, und heut ist anders«, sagte er und schnitzte aus dem Holzstück eine Kuhle.
»Mein Gott, Fertl, warum sprichst du kaum mehr mit mir? Was ist los mit dir?«
»Was soll schon sein.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Was einst gewesen, weiß ich kaum«, sagte er auf einmal. »Die enge Welt wird weiter Raum. Und Holz wird Eisen, Eisen Holz. Und Stolz wird Demut, Demut Stolz. Gar wunderbare Weisen singt er dann bei seinen Kreisen.
Mein Blut im Paradies für mich. Es haben alle Wünsche Ruh.«
Er hielt inne und sah Agnes an, die sich inzwischen erhoben hatte. »Fertl«, sprach sie. »Eigentlich wollt ich mit dir reden. Ich wollt dich um was bitten.«
»Möchtest du nicht wissen, wie das Gedicht weitergeht?«, unterbrach er sie.
»Ich weiß es«, sagte sie. »Ich weiß, wie es endet. Du hast es mir oft vorgetragen.«
Sie ging auf ihn zu, legte ihre Hand auf
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