Himmelsspitz
Tanzen der Bienen und das Flügelschlagen der Schmetterlinge.
Inmitten dieser Stille, in die Erde eingewachsen, wie ein Greis in einer Kuhle, und umgeben von lauter Abgründen, lag seit über 300 Jahren der Tremplerhof. So, als hätten Geister ein unsichtbares Netz über ihn gespannt, das fernhält, was stören könnte. Seit dem plötzlichen Verschwinden seines Bewohners Florian Trempler vor zehn Jahren blieb der alte Bergbauernhof verödet.
Die lange leblose Zeit, die Gewitter, die harten Winter, die Schneestürme und der unerbittliche Frost hatten inzwischen ihre Spuren hinterlassen. Das Holz war grau, die Schindeln auf dem Dach lagen morsch und verrutscht durcheinander. Der Kamin war eingestürzt.
Die winzigen Fenster, durch die kaum ein Kinderkopf passte, waren mit Fensterläden verschlossen. Rund um das Gebäude wucherten Hollerbüsche. Den kleinen Gemüsegarten vor dem Hof hatte die Natur zurückerobert. Die Bohnenstangen waren umgefallen und zum Teil schon von der Erde verschluckt. Wo einst Salatköpfe und Kräuter wuchsen, herrschten nun wilde Brennnesseln. Nichts erinnerte mehr an Menschenhand, einzig der Galgen, an dem das zerfledderte Skelett eines Hennengeiers hing. Doch wen wollte diese Vogelscheuche noch abschrecken? Waren die Tiere doch selbst nun Herrscher über den Tremplerhof.
Vor der Eingangstür lag, in die Erde eingelassen, ein großer Stein. Ins Holz über der Tür hatte man ›Christus mansionem benedicat‹ geritzt.
Im seitlichen Teil der Steinmauer klaffte ein großes Loch. Ein Blick in dieses endete im Schwarz der Küche. Kroch man hindurch, befand man sich in einer dunklen, seit Jahrhunderten unveränderten Rauchküche. Alles in ihr sah so aus, als sei der Hof Hals über Kopf verlassen worden. Möglicherweise war aber auch alles nur bereitet für die Wiederkehr des Lebens.
Auf dem offenen Herd waren geschnittene Späne aufgehäuft, darüber stand auf einem Dreifuß eine schwere eiserne Muspfanne mit einem langen Rührlöffel. Hinter dem Herd erhob sich ein hölzerner Galgen, an dem ein Wassertopf befestigt war. Oben an der Decke hing an einer Stange ein letztes Stück Speck, runzelig und ausgedörrt. In einem großen Regal lagen allerlei Küchenutensilien: Krapfenteller, hölzerne Mehlschaufel, Käse-und Kartoffelreibe sowie eine handgeschmiedete Wurstpresse und eine Kaffeemühle.
Der Hausgang war bis auf einen schwachen Lichtstrahl, der durch ein winziges Fenster fiel, dunkel. Dennoch konnte man den Kopf eines Bären erkennen, den man an die Wand gehängt hatte. An ein paar Nägeln baumelten drei schwere Kuhglocken, auf dem Boden lagen geflochtene Fichtenwurzelkörbe und ein paar Kraxen.
Die Stube war mit Zirbenholz vertäfelt. In der Ecke stand ein großer Ofen mit grünen Kacheln. Er war von einem Holzgestell umgeben, über dem an zwei Holzstangen dicke Wollsocken hingen. Unter dem Ofen lagen fünf Paar Kinder-und Erwachsenenstiefel. Sie waren hart wie Stein, denn ihre Sohlen bestanden aus Holz, und das Leder hatte man mit Lärchenharz behandelt. In der anderen Ecke, zur Fensterseite, stand ein alter Tisch. Auf ihm lagen zwei blecherne Eheringe, ein Verdienstkreuz aus dem Ersten Weltkrieg und eine Pfeife. In der Ecke über dem Tisch befand sich ein Kruzifix, dessen Jesus irgendwer auf brutale Art abgenommen hatte. Zwei mit Nägeln durchbohrte Füße waren alles, was man noch von ihm sah. Jemand hatte den Glauben an ihn verloren, nicht aber an den Heiligen Geist, denn der hing unversehrt als weiße Taube von der Decke.
Eine Treppe, deren Stufen morsch und zum Teil durchgebrochen waren, führte in das obere Stockwerk, wo sich mehrere Schlafkammern befanden. Ihre kleinen Fenster hatten kein Glas. Geöffnet und geschlossen wurden sie mit einem hölzernen Schiebeeinsatz, der zwischen zwei Holzleisten glitt. In der geräumigsten Schlafkammer stand das Ehebett, mit einem Strohsack als Matratze, der mit einem Leintuch aus Hanf überzogen war. Es war blutverschmiert.
Am Kopfende lagen ein Gebetsbuch, ein Sterbekreuz sowie zwei spinnwebzarte Andachtsbücher. Am Fußende befand sich eine geschmiedete Wärmflasche. Neben dem Bett hing ein Medizinkästchen. Die meisten Fläschchen darin waren halb leer. Am Fenster stand eine Kommode, deren Aufsatz geöffnet war. In ihm lagen eine kleine Schüssel mit Eierschalen und etwas Zucker, Zutaten, die dem Verschließen des Kuverts gedient hatten, das man daneben in eine hölzerne Briefklemme zum Trocknen gesteckt hatte.
Für meinen Sohn, wenn er
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