Himmelsspitz
mal wieder heimkehrt, stand darauf geschrieben.
Über dem Bett war eine Votivtafel angebracht, welche die Muttergottes zeigte. Ihr Blick war gesenkt und traurig, so, als hätte ihr nicht gefallen, was im Tremplerhof vor sich gegangen war. Darunter stand geschrieben:
Nun wird es still und tiefe Einsamkeit
Wogt hin und her. Das Lüftchen, das noch wehte,
Wo ist es? Steh’n hier stille Welt und Zeit?
Ja, Berge steh’n: doch ach, Bestand erflehte
Kein Mensch, hin fährt er, wie an Alpenzinnen
Die Wolken lautlos zieh’n und stumm zerrinnen.
In den anderen Schlafkammern standen viele Betten, große und kleine. Alle waren sie bezogen, die Decken nach hinten geschlagen. Man hatte sie geordnet verlassen – oder vorbereitet fürs Wiederkommen. Der Schnee, den der Winter durch die Ritzen getrieben hatte, hatte auf ihnen seine Spuren in Form kleiner weißer Bahnen hinterlassen.
Neben dem Wohngebäude stand der Stadl, darunter der Stall, dessen Tür schief in ihren Angeln hing und knarzte, wenn man sie öffnete. Der Stall war dunkel, die Decke niedrig und die Fenster mit milchiggelbem Fliegenkot gesprenkelt. Überall hingen staubbesetzte Spinnennetze. In der hinteren Wand befanden sich zwei Mistlöcher, durch die der Wind Laub und Nadeln hereingetragen hatte. In einer Ecke sah man einen Hennenstall. Im Streu lagen ein paar Eierschalen und Federn.
In der Ecke standen ein alter Melkschemel und ein Milchkübel, auf einem Regal lagen ein zerbeulter Striegel und allerlei Tierfallen mit spitzen, grausam todbringenden Zähnen. An der Wand hingen hölzerne Heugabeln. Im vordersten Barren, unmittelbar neben der Stalltür sah man einen Stapel Postkarten, die der Briefträger dort hineingeworfen hatte, weil der Empfänger, der Tremplerbauer, nicht zugegen gewesen war.
Auf jeder einzelnen dieser Karten war ein Gotteshaus abgebildet. Auf der untersten, aus dem Jahr 1949, die Münchner Asamkirche. Auf ihr stand: Vater, verzeih mir bitte. Aber es blieb kein anderer Weg. Irgendwann erklär ich’s dir. Gott beschütze dich. Dein dich liebender Sohn Luis.
Auf der nächsten Karte sah man die Gnadenkapelle Altöttings.
Vater, der Krieg hat überall schreckliche Spuren hinterlassen. Wie froh können wir sein, dass der Herrgott uns verschont hat. Pass auf dich auf, dein Sohn Luis.
Die weiteren Karten zeigten den Regensburger und den Trierer Dom, die Michaelskirche von Fulda und die Neuwerkkirche von Goslar.
Auf der Rückseite standen zunächst Worte der Sehnsucht und Verzweiflung, die von Monat zu Monat und von Stadt zu Stadt allmählich verebbten und dann in Freude auf das neue Leben übergingen.
Ganz oben auf dem Stapel lag eine Karte aus Hamburg, verschickt im Jahr 1952. Auf der vorderen Seite war die St.-Michaelis-Kirche abgebildet, auf der Rückseite war zu lesen:
Lieber Vater, es geht mir gut. In ein paar Monaten habe ich genug Geld gespart, um über’s Meer fahren zu können. Ich freu mich. Dein Luis.
Ein paar Meter unterhalb des Stalls stand eine Fichte, die während der kleinen Eiszeit aus dem Boden gesprossen war, im Zeitalter der Aufklärung, in einer Epoche, in der Napoleon Schlachten führte und in der es zum österreichischen Erbfolgekrieg gekommen war. Während der Zeit ihres Wachstums wirkten Goethe, Lessing und Klopstock, es komponierten Bach, Mozart und Vivaldi. Und als James Cook die Welt umrundete, rodeten Bauern in Fuchsbichl die Wälder, schnitten die Stämme zu Brettern, sammelten auf den Feldern Steine und bauten zwischen der Schneeschmelze, sobald die Wiesen aper waren, und den ersten Schneeflocken im Spätherbst einen stolzen Hof, der sie alle um Jahrhunderte überleben würde.
Des menschlichen Lebens beraubt, war der Tremplerhof nun doch selbst zum Greis geworden. Einer, der sich hoch oben über dem Weiler auf dem Weg zum Gipfel des großen Berges befand. Und doch trug er noch Lebendiges in sich, jene Erinnerungen nämlich, die sich seit Jahrhunderten an diesem Ort angesammelt hatten. Die Zeit war dort stehen geblieben.
Die Fuchsbichler mieden den Tremplerhof immer schon – nicht erst, seitdem er verlassen worden war. Seit Generationen nämlich ging im Weiler die Mär, Zeit und Erinnerungen seien in ihm gefangen. Es sei ein Ort, an dem Geister und Hexen ihr Werk trieben, zusammen mit ihren beiden Gehilfinnen, die die Namen Einsamkeit und Armut trugen, weil die eine Angst bereitete und die andere keinen Ausweg gewährte. Die Erleichterungen, die die Zukunft brachte, konnten so
Weitere Kostenlose Bücher