Himmelsspitz
Käfer und Spinnen. Ungestört.
Bis zum Abend des Schützenfestes.
Isabel konnte sich genau daran erinnern, wie wunderschön der Morgen jenes Tages war.
Sie erinnerte sich an den warmen Sonnenstrahl, an das leise Gurren des Taubenpärchens und an den beglückenden ersten Gedanken, der sie durchfuhr, als sie am Morgen die Augen öffnete: berauschendes Glück.
Sie schnupperte an ihren Händen und den Spitzen ihrer Haare. Nelkenduft. Die Sonne kletterte vom Fußende ihres Bettes langsam in die Höhe. Isabel schloss die geblendeten Augen. Wohlige Wärme kroch über ihr Gesicht. Sie schlug die Decke über den Kopf. Sie sah ihn wieder, den Moment, als der Mann im Dunkel des Lagerraums ihr Gesicht in die Hände nahm.
Nach dem Feuerwerk am Hafen hatte Isabel vorgeschlagen, noch ins Tanzcafé Atlanta zu gehen, denn dort spielte man neuartige Musik. Richtige Musik aus Amerika. Der Mann willigte ein, wenngleich er nachdenklich und etwas abwesend wirkte.
»Wir kennen noch nicht einmal unsere Namen«, sagte Isabel in die Stille, als sie durch die Straßen gingen.
»Sie haben recht, ich habe mich nicht vorgestellt. Und ich habe Sie nicht nach Ihrem Namen gefragt. Und Sie wollten den meinen nicht wissen. Oder wollten Sie? Wäre dem so, hätten Sie dann nicht gefragt?«
Isabel antwortete nicht.
»Ich weiß, dass Sie Linkshänderin sind«, sagte er dann. »Ich weiß, dass Ihre Nase zuckt, wenn Sie sich ärgern. Sie spielen mit Ihren Locken, wenn Sie nervös sind. Ich weiß, dass Sie Grübchen haben, wenn Sie lachen. Sie schwingen Ihre Hüften, wenn Sie stolz sind. Und ich weiß, dass Sie Ihre Gäste gern im Spiegel beobachten.« Isabel blieb abrupt stehen.
»Und seit heute«, setzte er fort, »weiß ich, dass Sie gern gebrannte Mandeln essen und anschließend Ihre Finger abschlecken. Sie öffnen Ihren Mund, wenn Sie in den Himmel schauen, und Sie tragen gern einen Schaumbart, wenn Sie Bier trinken.« Er machte eine kurze Pause.
»Und ich weiß, dass Sie Höhen nicht kennen.«
Er lächelte kurz. »Es gefällt mir, was ich weiß. Ich muss nicht mehr wissen. Nicht mehr.«
Isabel erwiderte erst nichts. Was wusste sie schon von ihm?
Appetit gegen zwölf Uhr, bevorzugtes Lokal: der Klabautermann am Hafen, Leibspeise: Labskaus, gern ein Glas Bier dazu. Eher wortkarg als redselig, dennoch unendlicher Charme, unverschämte Attraktivität und Liebhaber der Einsamkeit. Das wusste sie. Doch wusste sie nicht, warum er eigentlich hier war. Hier, mit ihr vor dem Eingang des Tanzcafés Atlanta. Er hatte sie kaum berührt, keine verliebten Blicke, kaum Komplimente.
»Ich heiße Isabel, ob Sie das wissen möchten oder nicht«, sagte sie dann.
»Gut, Isabel. Nennen Sie mich einfach Julius. Kommt von Jules Verne, ich stecke in diesem Namen und nenne mich so, seitdem ich wandere. In 80 Tagen um die Welt.« Er lachte.
Die Tür öffnete sich, ein junges Paar kam heraus: »Hey, ihr beiden, was steht ihr da draußen herum?«, rief die junge Frau und drehte sich im Kreis, sodass ihr Petticoat in die Luft wirbelte. »Bill Haley wartet auf jeden, der heute Freude am Leben hat. Habt ihr denn keine Freude? Keine Lust am Leben?« Sie lachte schallend. Ihr Freund nahm sie in den Arm. »Komm schon, du bist ja beschwipst.« Dann küsste er sie und verschwand mit ihr im Dunkel der Nacht.
»Und nun sollten Sie noch eines über mich wissen«, sagte Isabel zu ihrem zögerlichen Begleiter: »Sie sollten wissen, wie gern ich tanze.« Dann nahm sie ihn an der Hand und zog ihn hinein in das ekstatisch wilde Treiben, mitten auf die Tanzfläche. Um sie herum wirbelten die Paare wie lustige Kreisel, zeigten waghalsige Pirouetten, die Männer hoben die Frauen in die Höhe, diese kreischten und lachten vor Wonne.
Alles steppte, dass der Holzboden vibrierte.
Isabel begann zu tanzen, doch merkte sie schnell, wie verloren ihr Begleiter inmitten dieses rasanten Treibens war. Hilflos wie ein Tanzbär an der Kette stand er da, bewegte seine Füße ungelenk mal nach links, dann nach rechts. Nein, er konnte nicht tanzen. Und er wollte nicht, denn er entzog ihr seine Hand.
»Sie tanzen nicht gern, stimmt’s?«, fragte sie ihn.
»Doch, manchmal schon«, antwortete er. »Nur, bei uns tanzt man etwas anders.«
Und so nahmen sie an einem Tisch neben der Tanzfläche Platz und bestellten zwei Gläser Bier.
»Wie anders?«, fragte sie ihn. »Wie tanzt man bei Ihnen? Woher kommen Sie eigentlich?« In dem Moment wusste sie, dies war eine sinnlose Frage, auf die
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