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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Tramitz
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ihre Atmung war tief, und in ihrem Gesicht lag trotz der Schmerzen, die sie hatte, ein Lächeln. Maria erhob sich leise und schlich aus dem Zimmer. So wie vor vielen Jahren, wenn sie die kleine Agnes in den Schlaf gesungen hatte. Auch damals war sie so dagelegen, sanft, verletzlich und zart.
    Maria ging in ihre Kammer. Sie war die Letzte in Fuchsbichl, die das Licht löschte. Totenstille im Weiler, das Leben ruhte. Nur eines erwachte in diesen Stunden. Unmerklich, winzig.

II.
    Doch nun seh` ich steile Felsen
    Wachsen aus zerriss`ner Wand,
    Fern den Wasserfall sich wälzen
    Wie ein wallend Silberband.
     
    Allmählich versank der große Berg im Dunkel der Nacht. Es wurde spät, immer noch waren die Reisenden nicht an ihrem Ziel angelangt. Der Unfall mit dem Tier hatte sie einiges an Zeit gekostet. Es waren noch verletzende Worte zwischen den Erwachsenen hin-und hergeflogen, Schuldzuweisungen, Flüche, Beschimpfungen. Horst echauffierte sich über Lea, Isabel über Horst, Lea schwieg, ihre kleinen Hände zur Faust geballt, kämpfte sie gegen die Tränen. Über viele Kilometer hinweg herrschte im Kapitän eine erdrückende Stille.
    Schließlich zeichneten sich im Mondlicht nur noch die Kronenzacken des Berges ab. Mitten im Dunkel seiner Hänge funkelten winzige Lichter wie Sterne, die vom Himmel in ein kleines Nest gefallen waren.
    »Meine Kleine, ich glaube, wir sind bald da«, sagte Isabel. »Siehst du da vorn die hell erleuchteten Fenster?«
    Lea nickte und fragte: »Die Häuser liegen so hoch oben auf dem Berg, da ist es dann nicht mehr weit bis zum Gipfel, oder?«
    »Nein, nicht mehr allzu weit«, antwortete Isabel.
    »Und wir gehen bald rauf, auf die Bergspitze?«, wollte Lea wissen.
    »Ja, das werden wir«, versprach Isabel.
    »Da haben sich meine Frauen ja was vorgenommen«, spöttelte Horst. »Ihr werdet doch nicht von mir erwarten, dass ich da mitkomme? Ist ja schließlich auch mein Urlaub. Isabel, mein Goldstück, wir werden auf jeden Fall auch die Ruhe genießen, und zwar auf der Sonnenterrasse. Vielleicht haben die inzwischen auch schon das Schwimmbecken fertig gebaut. Aber große Wanderungen, die bleiben wohl die Ausnahme, was?«
    Lea sah, wie er wieder Mutters Knie tätschelte.
    Lea konnte Horst vom ersten Augenblick an nicht leiden. Schon vom ersten Moment an nicht, als er plötzlich an Mutters Seite aufgetaucht war, kurz nach Leas sechstem Geburtstag. Sie hatten vor der Schule auf Lea gewartet: Mutter, ein großer Mann, ein großer Stoffbär, ein großes Auto.
    »Das ist Horst«, sagte Isabel. »Sieh mal, was er dir Schönes mitgebracht hat.« Der Mann bückte sich, Lea roch süßlichen Atem und Rasierwasser. Sie sah dünnes, klebrig-glänzendes Haar, in dem sich die Furchen eines Kammes abzeichneten.
    »Und du bist also das kleine Fräulein Lea«, sagte er und drückte ihr den Bären in den Arm. »Haben wir schon mal einen so großen Bären gesehen?«, fragte er dann und zwickte ihr dabei leicht in die Wange. Lea blickte zu Boden und schwieg.
    »Lea, bedank dich bitte«, sagte ihre Mutter.
    »Ach, lass sie doch, sie ist wohl ein wenig schüchtern, das wird sich geben. Ich bin mir sicher, dass wir gute Freunde werden«, sagte der Mann und öffnete grinsend die Autotür. »Der Kapitän bringt die beiden Damen erst einmal in ein gutes Restaurant. Schule macht doch sicher Hunger?«
    »Ist Horst ein Kapitän?«, hatte Lea ihre Mutter am Abend gefragt, als Isabel sie ins Bett brachte.
    Isabel schmunzelte: »Oh nein, Kapitän heißt sein Auto. Opel Kapitän.«
    »Ah«, sagte Lea. Und nach einer Weile fragte sie mit gesenkter Stimme:
    »Ist Horst jetzt dein Freund?«
    »Ja, meine Kleine, das ist er.«
    »Warum?«, wollte Lea wissen.
    »Weil es uns dann besser geht«, antwortete die Mutter.
    »Aber es geht uns doch gut.«
    »Ach, mein Liebes«, sagte ihre Mutter nur noch. »Ach.« Dann knipste sie die Nachttischlampe aus.
    »Mama.«
    »Was ist?«
    »Ist Horst jetzt mein Vater?«
    »Nein.«
    »Und wenn du ihn heiratest?«
    »Dann vielleicht, meine Lea, vielleicht«, hatte Isabel geantwortet, mit einem Blick, der in weiter Ferne weilte.
    Mit der Stärke eines Paukenschlags hatte Horst ihr überschaubares, kleines Leben beendet und ein befremdliches eingeleitet. Die Welt verlor an Geborgenheit und Übersichtlichkeit. Nichts war mehr wie früher. Wenn Isabel abends feine Kleider trug und ihre Haare hochgesteckt hatte, wusste Lea, dass sie die Nacht über allein blieb. Anfangs hatte sie geweint, und Isabel hatte

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