Himmelsspitz
wenngleich dieser Vorfall dazu geführt hatte, dass Agnes mit ihrem Vater vorerst kein Wort mehr wechseln wollte.
Und Vinzenz, den Irregeleiteten? Hätt ich die Sünd sein lassen solln?, fragte sie sich oft im Stillen, wenn sie in der Kammer neben ihrem Mann lag. Oder hätt ich sie leben solln, mit Haut und Haar. Weit fort von hier, drüben über dem großen Meer. Ach Luis, warum nur bist gangen, so schnell, so plötzlich. Und weißt net amal, was’d daglassen hast, bei mir. So stolz wärst g’wesn, auf den Bub: die gleichen Locken, die gleichen Augen, und was für a samtene Haut. Ach Luis.
Dann perlten glitzernde Tränen in die Kissen, und immer wenn es Agnes vor Kummer und Sehnsucht heftig zu schütteln drohte, ergriff sie Vinzenz’ Hand und stellte sich vor, sie wäre nicht die seine, sondern die von Luis. »Ach, Vinzenz«, seufzte sie dann leise.
Ihr Angetrauter jedoch hatte gelernt zu schweigen. Nie fragte er nach den Gründen für diese Tränen, die Schmach erahnend, die die Wahrheit für ihn bedeuten würde. Und so hielt er still, wenn es etwas zu sagen gäbe.
Nichts hatte er zu vermelden auf dem Hof. Gar nichts. Stattdessen ließ er sich schinden, bis seine Knochen schmerzten. Gras mähen, Heu einholen, Säue und Hennen füttern, Holz hacken, Kartoffeln setzen und ernten, morsches Holz entfernen, die Almen hochsteigen, mit schweren Milchkübeln hinunterwanken; immerzu tätig sein, wie ein erbärmlicher Knecht, bis das Rückgrat krumm, das Gesicht faltig und die Hände rau und furchig geworden waren. Ja, arg-und mittellos war er gekommen, und das blieb er auch. Nichts dazugewonnen, weder Hab und Gut, noch des Schwiegervaters Anerkennung und schon gar nicht Agnes’ Liebe. Die ihres Herzens blieb ihm ganz vorenthalten, die ihres Körpers erfuhr er nur selten. Nur manchmal, während der langen Wintermonate, in denen der Frost Eissterne an die Fenster malte und die Bauern bereits beim Versinken der Sonne in ihre wärmenden Betten schickte, dann gab es doch so manche Nacht, in der Agnes schlotternd nach Wärme suchte, seine Hand gewähren ließ, wie ein braves Eheweib die Beine spreizte und den Schoß öffnete, genauso wie einst, in der Hochzeitsnacht.
Doch die meisten Nächte stieß sie ihn von sich, klagte über Schmerzen, über Müdigkeit, über etwas, was nur Frauen haben, und drehte ihm den Rücken zu. Wenn Vinzenz dann morgens beim Frühstück Urbans mitleidig spöttisches Grinsen sah, packte ihn die eiskalte Wut auf alles, was ihn auf diesem gottverdammten Kraxnerhof umgab. Doch er konnte still sein und schweigen. Die finsteren Worte, die es zu sagen gäbe, schluckte er hinunter in die Tiefe seines Körpers, wo sie sein Herz schwärzten.
Wehe dir, Kraxner, wehe dir, wenn meine Zeit gekommen ist, dachte er bei sich.
An jenem Tag, an dem Tobis kleiner Körper abwechselnd vor Kälte zitterte wie Espenlaub oder glühte wie ein Vulkan und Agnes unter Tränen alle ihr bekannten Heiligen beschwor, war Fuchsbichl von einer unheimlichen Stimmung erfüllt. Die Natur zeigte sämtliche denkbaren Facetten in einem Kreislauf, der sich derart schnell vollzog, dass den Fuchsbichlern angst und bange wurde. Mal schien die Sonne gleißender denn je, dann zogen unheilschwangere Wolken auf, aus denen es blitzte und donnerte, dass das Gebälk der Häuser und Ställe knackste. Schließlich fegte ein scharfer Sturm durchs Tal und schob alles Unwetter hinter die Berge, sodass sich Fuchsbichl wieder von seiner klarsten und schönsten Seite zeigen konnte. Bis erneut heftige Winde heranzogen und dunkle, prall gefüllte Wolken vor die Sonne bliesen, was den Weiler derart verdunkelte, dass man hätte meinen können, es wäre finstere Nacht.
Die Wälder und Wiesen tanzten im Takt des Wetters. Die Bäume bogen und wanden sich, ihre Blätter wisperten und rauschten, die Gräser zitterten, und die Blumen öffneten ihre Blüten, um sie gleich wieder zu schließen, wenn sich der Himmel verdunkelte.
Inmitten dieses Rasens der Natur begann sich auf Fenders Misthaufen ein Fellbündel zu regen. Es zuckte, schüttelte sich und tapste schließlich wankend von dannen, leise und von allen unbemerkt. Die Fuchsbichler saßen zu der Zeit auf den Bänken vor ihren Häusern, mit großen Augen und gefalteten Händen. Alle, bis auf Urban. Der hockte in der dunklen Stube und grübelte, zum ersten Mal seit langer Zeit. Die Pfeife in seinem Mund war erloschen. Er stierte auf die Flasche Schnaps, die vor ihm stand. Der alte Kraxner verstand die
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