Himmelsspitz
da?«, fragte Isabel neugierig.
»Andenken.«
»Andenken. An was?«
»Andenken an den Himmel«, ein Hustenanfall unterbrach den Satz. »Der Staub vom Sägmehl«, meinte er nach Luft schnappend.
»Andenken an den Himmelsspitz«, setzte er fort und spuckte in sein Taschentuch.
»Darf ich sie mal anschauen?«, fragte Isabel und trat ein paar Schritte näher.
»Dürfen Sie.«
Im Licht der kleinen Lampe, die auf dem Tisch stand, konnte man sie erkennen, all die Himmelsspitze, ein Haufen zackiger Berge, größere und kleinere. Sie lagen quer durcheinander, als sei ein Sturm über die Alpen gefegt und hätte die Berge entwurzelt und wild durcheinandergewirbelt. Inmitten des Durcheinanders lagen ein Stück Brot sowie ein blutiges Taschentuch – und an den Lampenfuß gelehnt eine Postkarte, auf der die Speicherstadt des Hamburger Hafens abgebildet war. Isabel spürte, wie dieser unglaubliche Zufall ihr Herz springen ließ. Ausgerechnet die Speicherstadt, hier an diesem abgelegenen Ort.
»Das ist eine schöne Karte, die Sie da haben«, sagte sie mit dünner Stimme.
»Ja«, antwortete er. »Kommt aus Hamburg.«
»So wie wir.«
»Ach ja?« Der Mann stand auf und ging zu einem Gestell, in dem ein Schleifstein lag. Er drehte ihn und wetzte dann daran das Messer, dass die Funken stoben. »Muss eine schöne Stadt g’wesen sein. Vor dem Krieg.«
»Darf ich mich setzen und Ihnen ein wenig bei der Arbeit zusehen?«, fragte Isabel.
Der Mann blickte sich suchend um. Dann sagte er: »Kommt selten jemand her«, und zeigte auf ein umgedrehtes Fass in der Ecke: »Da.«
»Danke.« Sie atmete tief durch. »Es gefällt mir, was Sie da schnitzen.«
Der Mann nickte nur stumm mit dem Kopf. Er nahm einen Miniaturberg in die Hand und zeigte ihn Isabel:
»Die Zacken brechen mir immer wieder ab. Ist ärgerlich«, meinte er und setzte seine Schnitzerei fort.
Es entstand eine längere Pause, in der man nur noch das Schaben des Messers und das Brummen einer dicken Fliege vernahm.
Draußen miaute der Kater, und weil Lea die wortkarge Unterhaltung der Erwachsenen langweilig fand, ging sie vor die Tür.
Inzwischen war es wärmer geworden, die Sonne stand steil am Himmel, es ging gegen Mittag zu. Lea war ebenso schläfrig wie das Tier, denn die Nacht war unruhig verlaufen. Wieder hatte Lea Wirres geträumt und war umhergewandelt. Sie schloss die Augen und legte eine Hand auf den Rücken des Katers. Durch die Holzwand hörte sie noch ihre Mutter den Mann fragen:
»Würden Sie mir etwas verraten, auch wenn es indiskret ist?«
»Kommt drauf an«, erwiderte er.
»Wie kommt diese Postkarte zu Ihnen, wer hat sie Ihnen geschickt?«
»Das können’s mich gern fragen, ist kein Geheimnis.« Lea hörte ihn lachen. »Zehn Jahre hab ich die schon hier stehn. Ein Freund hat sie mir g’schickt. Wieso interessiert Sie das?«
»Nur so, weil es eine so schöne alte Karte ist. Deswegen.«
»So, so«, antwortete der Mann.
Mehr hörte Lea nicht mehr, denn sie war eingeschlafen.
Kopf an Kopf mit dem großen Kater.
Niemand hörte, als das Telefon in Granbichlers Stube klingelte. Die Haustür stand weit geöffnet, Cillis Küchenschürze lag auf der Ofenbank. In der Küche brodelte auf dem Herd der Heublumensud für die Schweine.
Das Frühstücksgeschirr war bereits abgewaschen, Milch und Speck in die Kammer geräumt. In der Stube hingen die Festtagsgewänder von Cilli, Hanni und Magda, die Blusen und Schürzen waren frisch gewaschen und gestärkt, das Dirndl gebügelt. Schmuck und Blumen für das Dekolleté hatte man auf die Kommode gelegt, alles bereit für den heutigen Tag.
Vor der Haustür lag auf einem Schaffell Cillis Hund, die alte Senta, und schlief. Auch sie hörte das Klingeln des Telefons nicht, denn sie war inzwischen in die Jahre gekommen, und das hatte sich auf ihre Ohren niedergeschlagen. Vorbei die Zeiten, in denen sie Cilli, Robert und die Zwillinge begleitete, wenn diese mit ihren Schafen durch die Höhen der Berge streiften.
Ihr Fell war graustichig geworden, und die Eckzähne fehlten, weswegen sie nun Schweinesud statt Nachgeburten, Schlachtüberreste, Knochen oder Gedärme zu fressen bekam. Wenn der Nachbarsjunge Tobi vorbeikam, brachte er manchmal einen Blechnapf Quark und Ei mit. Der Bub setzte sich dann neben Senta auf den Boden und sah zu, wie sie den Brei schlabberte. Dabei hielt er Wurzl fest, Sentas Sohn, damit der seiner alten Mutter nichts wegfressen konnte. Wurzl war der Einzige der fünf Nachkommen von Senta, der
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