Himmelsspitz
jedoch ein grausiges Ende haben.
Agnes stand gerade vor der Kommode und flocht sich die Haare für das Fest, als sie sein Schreien hörte, ein Schreien, das ihr das Blut in den Adern stocken ließ.
»Mutter, kimm schnell, kimm!«, rief der Junge aus dem Stall. Agnes stolperte die Stiegen hinunter, so schnell, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her, jagte quer über die Wiese, mitten durch die aufgebrachte Hennenschar, bis sie den Stall erreichte.
»Mutter, bei den Ferkelein«, rief Tobi mit erbärmlicher Stimme. Vorsichtig schlich Agnes den schwach beleuchteten Gang nach hinten.
»Mei, hast du mir an Schreck eing’jagt, Tobi, was ist denn gar so schlimm?«, fragte sie schwer atmend.
»Mutter da!« Er zeigte in den Trog.
»Tobi, was soll da sein?«, fragte sie, nichts anderes erkennend als ein paar Futterreste. »Sag doch, was siehst denn da drinnen?«
»Der Großvater«, weinte Tobi. »Warum hat er’s getan? Warum?«
Dann schlug er mit geballten Fäusten auf seinen Kopf und schrie. »Mit dem Beil, er hat sie einfach abg’hackt.«
Agnes holte ihre Streichhölzer aus der Kitteltasche, im Schein des kleinen Feuers sah sie etwas, was die gewöhnlich allesfressenden Schweine nicht angerührt hatten: Wurzls kleine Schlappohren, blutig, nass und klebrig von den Erdäpfeln, mit denen zusammen sie den Tieren zum Fraß vorgesetzt worden waren. Die Schweine standen eng zusammengedrängt im hinteren Teil ihres Stalls, als hätte selbst sie das Grauen erfasst.
»Um Himmels Willen!« Agnes nahm ihren Sohn in die Arme und drückte seinen Kopf an ihre Brust. »Schau net hin, Tobi, net hinschaun.« Sie fühlte, wie seine Tränen durch ihre Bluse drangen. »Wein net, bitte, Tobi, der Wurzl werd scho wieder gsund. Wein net, ich bitt dich.« Doch Tobi ließ sich nicht trösten. Mit einem Stoß schob er Agnes von sich und wischte die Tränen mit dem Handrücken ab. Dann holte er aus der Stallecke etwas Heu, in das er behutsam Wurzls Ohren bettete, als wären sie Juwelen, und steckte sie in seine Hosentasche.
»Mutter, ich geh jetzt den Wurzl suchen, auch wenn er mich nimmer hören kann, jetzt, wo er keine Ohren mehr hat.« Seine Stimme, dachte Agnes mit Schrecken, klang plötzlich tief, nicht hell, wie sonst. Sie war belegt, statt klar, nicht sanft, fast eisig. Nie zuvor hatte sie ihren Sohn so sprechen hören.
»Ich geh ihn suchen, wiederholte er. »Und wenn i ihn net find, is nix mehr, wia’s war.« Dann verließ er mit aufrechter Haltung und entschlossenen Schritten den Stall.
Agnes ließ sich auf dem Holzstumpf nieder. Sie zitterte, als sie ins Halbdunkel flüsterte:
»Heilige Mutter Gottes, wia hast des zulassen können, dass es so kemma is? Warum strafst du des Kind a so?« Dann schüttelte sie fortwährend den Kopf, bis schließlich Maria, die alte Magd, sie fand, bleich und wortlos.
»Jessas Agnes«, sagte sie, »wia schaust du denn aus? Sag, was war des für a Gschrei?«
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich unter den Fuchsbichler Frauen die Nachricht von dem geschundenen Tier. Jene, die bereits ihr Festtagsgewand angelegt hatten, wechselten es geschwind gegen den Kittel, sie lösten ihre halbfertigen Haarkränze und knoteten sie zu einem schnellen Dutt. Sie schlüpften in ihre Bergschuhe und stürmten los. Sie suchten unter Stuben-und Küchentischen, unter Ofenbänken, in den Speise-und Schlafkammern. Dann eilten sie hinüber zu den Stallungen, leuchteten mit Lampen in jede der vielen dunklen Ecken und Nischen, sie wühlten im Heu, und schließlich hörte man sie auch in den umliegenden Wäldern rufen »Wurzl, kimm, kimm, Wurzl.«
Senta, das Muttertier, hörte weder das Locken und Rufen der Suchenden, noch das verzweifelte Klingeln des Telefons. Schwerfällig erhob sie sich von ihrem Schaffell, schüttelte sich und legte sich auf die andere Seite. Den Kopf auf die Pfoten gebettet, schlief sie wieder ein.
Und unten im Tal legte Robert irgendwann den Hörer auf die Gabel. »Mach mir Sorgen«, sagte er.
Das Ende der Nacht kündigte sich an, denn der Mond verblasste.
Halb im bleichen Licht der Morgendämmerung, halb noch in den Fängen der Nacht, sah man die felsigen Zacken des Himmelsspitz.
Obwohl sie sich noch müde fühlte, war Lea an diesem Tag früher erwacht als sonst. Doch sie hatte wieder diesen Traum gehabt, das zweite Mal, seitdem sie hier in den Bergen waren.
Ihr erster Blick galt dem großen Holztisch mit der runden Schale, die Mutter jeden Abend mit ein paar Keksen füllte. Sie war
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