Himmelsspitz
leer.
Also muss der Traum Lea wieder verführt haben, auf ihrem Pfad ins Irgendwo zu wandeln, weil sie dann begierig alles Essbare in sich hineinstopfte, was zu finden war. Hier im Hotel Himmelsspitz ließ Isabel allabendlich den großen Holztisch vor die Balkontür schieben, damit der Mondschein Lea nicht verleiten konnte, über die Balkonbrüstung zu klettern, von wo aus sie in die Tiefe stürzen würde.
Lea benötigte nun all ihre Kraft, um das schwere Möbelstück zur Seite zu schieben. Dann packte sie ihre Bettdecke, öffnete die Tür und ließ sich draußen, in der Kühle des Bergmorgens, auf dem Plumeau nieder – so wie sie es jeden Morgen tat.
Doch heute war es früher als sonst.
Mutter und Horst schliefen noch. Von Tag zu Tag blieben sie länger im Bett liegen. Und weil Horst auf einem gemeinsamen Frühstück bestand, musste Lea jeden Morgen auf die beiden warten. Manchmal schlich sie sich hinunter zur Küche, wo die Granbichler Zwillinge Hanni und Magda frische Brötchen buken. Sie hatten immer gute Laune, lachten viel und sangen lustige Lieder. Besonders nett war die taube Frau Granbichler. Sie strich Lea immer über die Haare, liebevoll und sanft, und goss ihr heißen Kakao in einen Becher.
»Warum ist deine Mutter stumm?«, hatte Lea Hanni einmal gefragt.
»Sie ist nicht stumm. Sie kann sprechen. Nur spricht sie mit den Händen, wie sie mit dem Herzen hört. Das ist was ganz Besonderes, denn auf diese Weise hört sie mehr als jeder andere Mensch hier weit und breit«, hatte Hanni geantwortet.
Drüben, im Hof am Ende des Orts, ging ein Licht an. Jemand schob die Vorhänge zur Seite und blickte nach draußen. Lea sah eine schwarz gekleidete Frau mit langen grauen Haaren. Sie blieb eine Weile am Fenster stehen, dann zog sie die Vorhänge wieder zu. Wenige Minuten später trat sie aus der Haustür und leuchtete mit einer Taschenlampe mal nach links, mal nach rechts. Sie verschwand hinter der einen Seite des Hauses und erschien ein paar Minuten später wieder an der anderen Seite. Immer wieder umrundete sie das Haus, im Zickzack dem Lichtkegel folgend, bis sie schließlich zur Kapelle ging, die stets verschlossen war, wenn Isabel, Horst und Lea sie besichtigen wollten. Aber in diesen frühen Morgenstunden war sie geöffnet, denn die schwarze Frau verschwand in dem winzigen Gotteshaus. Am leichten Flackern hinter den roten Glasmosaiken, die das Kapellenfenster zierten, erkannte Lea, dass eine Kerze angezündet worden war.
Wann endlich wachte die Sonne auf? Wie spät es wohl sein mochte? Lea fröstelte. Sie zog die Decke fester um ihre Schultern.
Plötzlich schlich etwas Dunkles unmittelbar vor ihrem Balkon durch das Gras. Lea erkannte ihren neuen Freund, den Kater.
»Katerlein«, flüsterte sie, stand auf und lehnte sich zwischen den Geranien über die Brüstung. Das Tier blieb stehen, wandte Lea kurz seinen dicken Kopf zu, leckte seine Pfoten und trollte sich dann wieder.
Kater war das größte Katzentier im Ort. Lea kannte inzwischen fast alle von ihnen, die beiden Graugetigerten vom Hotel, die Schwarzweiße vom Riesen, und dann gab es noch drei kleine Katzen, die sich in der Nähe des Bauernhofes aufhielten. Lea hatte allen einen Namen gegeben.
Und Kater hieß einfach nur Kater.
Lea kannte nicht nur die Katzen, sie kannte auch annähernd jeden Bewohner des Ortes, denn sie war oft allein unterwegs. Mutter kränkelte, und Horst wollte seine Ruhe. So lernte sie die Schulzes aus Innsbruck kennen, die seit vier Jahren hier wohnten, die Gerbers, die am Ortsrand ein Ferienhaus gebaut hatten, die Streichers mit den drei kleinen Kindern, die den Souvenirladen betrieben, Herrn Fiegl, der sich zusammen mit seinem Sohn um den Sessellift kümmerte, sowie Frau Fender von der Jausenstation und ihren Mann, der schlecht sah und Augen hatte, wie Lea sie noch nie gesehen hatte. »Seine Augen hat ein grauer Vogel zerfressen«, hatte Frau Fender ihr verraten.
Besonders mochte Lea Karl, den Riesen, den sie oft besuchte, weil er so schöne Geschichten erzählen konnte. Er stellte dann für Lea einen Schemel neben seine Leiter und erzählte, während er an seinem Haus herumpinselte, allerlei Geschichten von früher. Wie er in den Bergen herumkletterte und Gras rupfen musste, weil er aus Versehen den elterlichen Stall abgebrannt hatte. Aber nie verlor er auch nur ein Wort darüber, was es mit der schwarzen Frau auf sich hatte.
Langsam wurde es heller, die Konturen des Berges zeichneten sich vom Himmel ab,
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