Himmelssucher - Roman
kurzzeitig zu einem strahlenden Höhepunkt aufflackerte, der aber nur das Vorspiel war zum darauffolgenden Verfall, den sie in sich gespürt haben musste.
Am Samstag vor der Hochzeit trafen Minas Eltern ein. Gebannt stand ich am Wohnzimmerfenster und beobachtete zwei hagere Männlein, die Taschen aus dem Kofferraum luden – beide hatten schmale Schultern und große Köpfe mit buschig-schwarzen Haaren. Einer von ihnen war Sunil, der andere musste Minas Vater Rafiq sein, im ersten Moment aber konnte ich sie nicht auseinanderhalten. Die Ähnlichkeiten hörten damit nicht auf. Beim Tee am Küchentisch stellte ich überrascht fest, dass beide die lästige Angewohnheit hatten, ständig zu zwinkern. Ein bedeutungsloser Zufall, keine Frage, aber er hinterließ bei mir einen verstörenden Eindruck: Mir schien, als wären die wichtigsten Männer in Minas Leben immer ein bisschen neben der Spur.
Der Tee an diesem Samstagnachmittag war eine lebhafte Angelegenheit. Rafiq ereiferte sich über die Reise, die er und Rabia soeben hinter sich gebracht hatten und die bei einer angesetzten Flugzeit von etwas mehr als zwanzig Stunden anstrengend genug gewesen wäre, durch einen achtstündigen Aufenthalt in Rom – aufgrund technischer Probleme der Maschine – allerdings vollends unerträglich geworden war. Noch immer schäumte er vor Wut über die Mahlzeit in der Flughafencafeteria, die die Fluggesellschaft den zum größten Teil muslimischen Passagieren serviert hatte. »Es ist mitten in der Nacht. Alles hat zu. Sie müssen uns irgendwas geben … Also rühren sie eine Suppe mit grünen Erbsen und etwas Fleisch zusammen.« Rafiq war der geborene Unterhalter, seine Stimme, seine Mimik waren so lebhaft wie seine Hände, die niemals zur Ruhe kamen: » Also … zu dem Zeitpunkt ist jeder am Verhungern . Seit fünf Stunden sitzen wir dort rum. Fünf Stunden! Die Leute haben Hunger. Also essen sie. Die Kinder essen. Die Eltern essen. Die Alten essen … Aber was essen sie? Ich bin der Einzige, der so viel Grips hat, eine Frau zu fragen: ›Was servieren Sie hier?‹ Sie spricht kein Englisch. Nicht ein Wort. Sie gibt mir die Suppe, und ich sehe darin etwas schwimmen. ›Was ist das?‹ , frage ich sie. ›Lardo‹, sagt sie. ›Lardo.‹« Rafiq wiederholte das Wort einige Male mit ausdrucksloser Miene und ahmte dabei den Gesichtsausdruck der Kellnerin nach. Als er mein amüsiertes Gesicht bemerkte, wandte er sich an mich: »Lardo? Was ist Lardo? Und weil ich misstrauisch bin, frage ich sie: ›Ist es Schwein?‹ Sie versteht nichts, sie hat keine Ahnung und sieht mich an, als wollte sie mir sagen: Beschwer dich nicht und iss, was man dir gibt, du Hund. « Es fiel mir schwer, das Bild, das ich von Minas Vater hatte, der seiner Tochter alle Knochen brechen würde, mit diesem amüsanten, geselligen Menschen in Übereinstimmung zu bringen. Immer wieder blickte ich zu Mina, weil ich sehen wollte, wie sie sich fühlte. So weit ich es mitbekam, genoss sie Rafiqs Anwesenheit ebenso sehr wie ich. Er fuhr mit seiner Geschichte fort und deutete auf seine Frau, eine dicklichere, ältere, weniger attraktivere Ausgabe ihrer Tochter: »Aber dann hat sie die brillante Idee, einen Muhlaut von sich zu geben. Die Kellnerin schüttelt den Kopf und gibt einen anderen Laut von sich. ›Oink, oink‹, macht sie. ›Was ist oink, oink?‹, frage ich. Und daraufhin sagt ein Kind, das dabei steht und in den USA geboren wurde: ›So macht ein Schwein.‹ Ist das zu glauben? Sie servieren einer Maschine voller Pakistani Erbsen mit Schwein? Als die Leute das hören, ist die Hölle los. Sie laufen auf die Toiletten, um sich den Mund auszuspülen. Andere versuchen, das Essen zu erbrechen. Es geht drunter und drüber!« Er lachte. Das taten wir alle, außer Vater, der aussah, als würde er sich am liebsten verkriechen. »Als die Flughafenangestellten den aufgescheuchten Haufen sehen, bekommen sie es mit der Angst zu tun. Also sperren sie uns im Gate ein. Wollen uns nicht mehr rauslassen. Und werfen uns Brot und Käse zu, als wären wir Gefängnisinsassen. So geht das zwei Stunden ! Dreihundert Leute, die rülpsen und furzen. Ich bin sechzig Jahre alt. Sie ist sechzig Jahre alt. Der reinste Albtraum!«
Rafiq lehnte sich zurück und sah zu Mina. Die Stimmung am Tisch änderte sich. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er seine Tochter. »Und nach all dem steigen wir aus dem Flugzeug, und was müssen wir sehen …«
»Bitte, Rafiq«, unterbrach ihn Rabia. »Fang nicht
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